Camilio Mayer
der Napoleon der Lüfte,
der verwegene Ausbrecher aus russischer und französischer Gefangenschaft - sein dornenvoller Werdegang,
seine Erlebnisse in russischer und französischer Gefangenschaft,
seine tollkühne Flucht in, aus und unter dem Schnellzug Paris-Genf.
Mit 8 Bildern.
Nach seinen Mitteilungen und Aufzeichnungen erzählt von Adolf George.
Zweite, vermehrte und verbesserte Auflage
Gustav Bigalke
Selbstverlag (Schönlanke, Bahnhofstraße 34).
Auch zu beziehen durch das »Programm«, das Artistensachblatt in Berlin. Leipziger Straße 41, und durch alle Buchhandlungen.
Frankfurt a. d. Oder.
Buchdruckerei Trowitzsch + Sohn.
1921.
Kapitel 1: Wer ist Camilio Mayer
2. Immer voller die Luft, immer weiter die Brust
Kapitel 3: Ausbruch des Krieges und Teilnahme daran
3. »Ja, wenn die Infanterie vors Feuer geht, —
Kapitel 4: Gefangen in Rußland
3. Als Arbeiter nicht zu gebrauchen
4. Im Wüstensand von Russisch-Asien
6. Leid und Freud in Druschkowka
7. Wie man man sich in Russland bemühte, die Elsässer zu Franzosen zu machen
Kapitel 5: Gefangenschaft in Frankreich.
Wie man sich in Frankreich weiter bemühte, die Elsass-Lothringer zu Franzosen zu machen
2. Katzenjammer aus beiden Seiten
Kapitel 6: Auf Tod und Leben um die Freiheit
2. Hindurch durch Donner und Blitz!
3. »Ich hatt‘ einen Kameraden ...«
5. Erringung der Freiheit durch verwegene Flucht in, auf und unter der Bahn
Das vorliegende Buch, lieber Leser, ist bereits in einer Zeit geschrieben worden, da noch der gewaltige Weltkrieg mit aller Macht tobte.
Durch den jähen Zusammenbruch und durch — die Revolution ist die frühere Herausgabe des Buches verhindert worden, indem Verfasser und Träger der Erzählung in Lagen gebracht wurden, in denen ihnen jene unmöglich wurde.
In diesem Buche, lieber Leser, führen wir dich nun in eine Welt, die du vielleicht nur von jenen Abenden her kennst, da du nach des Tages Last und Mühen deine Schritte zu den Tempeln der leichtgeschürzten Muse lenktest, um bei hellem Lichterglanz und leichter, prickelnder Musik Zerstreuung und Erholung von dem alltäglichen Einerlei zu suchen und zu finden.
Und so gefangen nahmen dich jedesmal die Darbietungen der Jünger dieser zehnten Muse, und so leicht und selbstverständlich erschien dir alles, daß dir wohl kaum der Gedanke kam, wieviel ernstliches Streben und wieviel Willenskraft und Ausdauer die Vorbedingungen für die zur Schau getragenen Leistungen sein mögen.
Hier sollst du es nun kennen lernen, und wir wollen dich einen Einblick nehmen lassen in das Werden eines solchen Künstlers-, wollen dir zeigen, daß hinter den in meist prächtigem Rahmen zur Schau getragenen Leistungen meist ein langer, beschwerlicher Daseinsweg zurückliegt, den Menschen nicht zu gehen vermögen, die ehrlicher Arbeit und ernstem Streben abhold sind.
Und angenehm wird es gewiß dich berühren, bei einem Vertreter dieser Kunst, die in der ganzen Welt ihre Heimat hat, heiße Sehnsucht und Liebe zum Vaterhause und zum Vaterlande zu finden,
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die ihn, als das Missgeschick der Kriegsgefangenschaft seinem Freiheitsdrang unerträgliche Fesseln anlegte, den Mut, die Kraft und Stärke finden ließen, diese Fesseln zu sprengen.
Es ist heute eine Zeit, wo das gleiche Schicksal, die Gefangenschaft, lieber Leser, wie sie dem Helden dieses Buches beschieden gewesen ist, noch auf vielen Tausenden unserer Volksgenossen lastet, die noch immer fern der Heimat gehalten werden und vor Sehnsucht nach ihr sich verzehren.
Aber auch wir andern, die wir in der Heimat weilen, sind in Ketten und Fesseln geschlagen worden, aus denen wir uns nach dem Plane unserer Feinde nicht mehr befreien sollen.
Und da erhebt sich bei manchem von uns die bange Frage: „Wird es uns jemals wieder gelingen, frei zu werden, werden wir jemals wieder als ein großes und stolzes Volk in der Welt dastehen?“
Wer wünschte nicht von uns, die wir unser Volk und Vaterland lieben, diesen Tag wieder herbei, und wer möchte nicht an der Erreichung dieses Zieles mithelfen und mitarbeiten!
Aber wie können wir dieses Ziel erreichen?
Allgemein ist die Erkenntnis, daß die herrschenden Zustände nicht bleiben können, daß eine Änderung zum Besseren eintreten muß.
Aber es wird nichts besser, wenn wir nicht selbst besser werden und Einkehr bei uns halten.
Was ist aus unserem Strebsamen, tüchtigen und fleißigen Volke geworden?
Mit unseres Volkes Macht und Ehre, mit seiner Freiheit und seinem Wohlstand ist es zu Ende.
Sklaven sind wir geworden, verdammt, für unsere Bedrücker zu arbeiten.
Und wie sieht es im Innern unseres Volkes aus?
Schamlose Genusssucht, eine täglich zunehmende Unehrlichkeit und verbissene Unzufriedenheit sind an der Tagesordnung, und deutsches Empfinden hat vielfach einer Würdelosigkeit Platz gemacht.
Und dennoch dürfen wir nicht verzweifeln Vermag uns auch die Gegenwart keine Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu geben, so blicken wir zurück in unseres Volkes Vergangenheit, in seine Geschichte.
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Kehren wir zurück zu den Kräften dieser Vergangenheit, und wir werden eine bessere Zukunft schauen.
Wir werden wieder den Weg finden, der uns aufwärts führt.
Wir werden uns wieder auf uns selbst besinnen, und Arbeitsamkeit und Fleiß und deutsches Denken, Fühlen und Handeln werden wieder das deutsche Volk beherrschen.
Und dann mag kommen, was da will, wir werden unser Ziel erreichen, wie der Künstler, von dem uns in diesem Buche erzählt wird, trotz schier unmenschlicher Strapazen und Beschwerden das Seinige erreicht hat.
Liebe zur Heimat und zum Vaterland waren die Kraftquellen, die nie versiegten.
Sie werden auch für unser Volk der Born sein, aus dem wir für die Erreichung einer besseren Zukunft immer wieder Mut und Kraft werden schöpfen können.
Mit diesen Gedanken übergeben wir das Buch der Öffentlichkeit.
Möge es eine gute Wirkung im obigen Sinne ausüben.
Schönlanke, im November 1919.
Verfasser und Herausgeber
Die Beliebtheit, deren sich das Camilio-Buch bei jung und alt erfreut, hat bald eine neue Auflage notwendig gemacht.
Wir übergeben diese in verbesserter Form und gediegener Ausstattung. Dabei ist es unser Bemühen gewesen, den Preis so zu bemessen, daß das Buch den weitesten Schichten der Bevölkerung zugänglich ist.
Seit dem ersten Erscheinen des Buches ist noch viel Leid und Unglück dem deutschen Volke zugestoßen, es ist in die tiefsten Tiefen der Schmach und des Elends geraten.
Aber wie merkwürdig! Trotz dieser jammervollen Lage und trotzdem die Wirklichkeit so wenig Anlaß zur Hoffnung zu geben scheint,
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wollen die Stimmen nicht verstummen, die dem deutschen Volke ein Wiedererstarken und seinen neuen Aufstieg in nicht allzu ferner Zukunft voraussagen.
Wer denkt hierbei nicht unwillkürlich daran, daß umgekehrt, in den verflossenen Glanztagen immer wieder Warner und Mahner aufstanden, auf diese und jene Schwächen hindeuteten und trotz allen Glanzes und Schimmers sorgenvoll von der Zukunft sprachen.
Und sie haben Recht behalten.
Und sollten die jetzt überallertönenden Stimmen anderer Art nicht ihrerseits das Wahre treffen?
Aber, sei es, wie es sei. Über allen Zweifel steht fest, daß nur unbeirrbare nicht unterzukriegende Zukunftsgläubigkeit dem deutschen Volke in seiner Lage frommen kann. Der Leser des vorliegenden Buches wird finden, daß dieses allüberall von einem solchen Geiste durchweht ist.
Möge es darum einen Teil dazu beitragen, in deutschen Seelen Zuversicht und Vertrauen zu stärken oder zu erwecken.
Im Mai 1921.
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Es ist eines Abends zu Beginn des für Deutschland so verheißungsvoll anbrechenden Frühlings 1918 in X., einer bekannten Stadt des Ostens.
In den Straßen geht es lebhaft zu.
In hellen Scharen sieht man die Menschen drängen und eilen.
An ihrer Zahl, an ihrem Eifer, an ihrer Erregung ist zu erkennen, daß es etwas Besonderes ist, das sie anlockt.
Und in der Tat, alles eilt, alles drängt, um zur Zeit zu der angesagten, großen vaterländischen Veranstaltung zu kommen, die zum Besten der Kriegsbeschädigten veranstaltet wird und für die außerordentliche Kunstdarbietungen angekündigt sind.
Der geräumige, hell erleuchtete Saal, in welchem die Veranstaltung stattfinden soll, füllt sich bei dem gewaltigen Andrang überaus schnell.
Nicht lange, so sind alle Plätze besetzt, und bald danach ist auch in den Gängen kein Raum mehr frei.
Viele, viele strömen noch herbei und versuchen, sich Eingang zu verschaffen.
Doch vergebens! Ein Teil von ihnen kehrt um, vielleicht, um später wieder zu kommen.
Die Mehrzahl aber bleibt da, um draußen auf den letzten Teil der Veranstaltung zu warten, der sich an der nahe liegenden Weichsel abspielen soll.
Mit Neid gedenken diese derer, die noch Raum im Saale gefunden haben.
Dort bietet sich ein eigenartiger Anblick.
Man sieht ein einziges Gewimmel.
Eine bunt durcheinandergewürfelte Menge hat sich zusammengefunden.
Klein und groß, jung und alt, Zivil und Militär, in allen Schichten und Graden, sind vertreten,
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und alle sind voller Erwartung und brennen vor Neugierde darauf, den zu sehen, der das Tagesgespräch der Stadt bildet, ihn, den großen Künstler, von dessen verwegener Flucht aus der Gefangenschaft, von dessen wunderbaren Kunstdarbietungen man soviel, schier unglaublich Anmutendes in den letzten Tagen gehört hat
Man weiß, daß Camilio Mayer —- dies ist sein Name — seine Kunst in den Dienst des Vaterlandes gestellt hat, daß er die Hauptstütze der Veranstaltung ist und daß er heute noch etwas ganz Besonderes vorführen will.
Er will seine Kunst auf dem Hochseile zeigen und zwar auf einem Hochseile, das in schwindelnder Höhe über die Weichsel gespannt ist, über diesen stolzen, gewaltigen Strom im Osten Deutschlands, den man immer nur mit einem Gefühl ehrfurchtsvoller Scheu zu betrachten wagt.
Kopfschüttelnd hatte man am Tage das über den Fluss gespannte Seil gemustert kopfschüttelnd die Breite des Stromes mit den Augen gemessen.
Und nun ist ein jeder, der irgendwie konnte, erschienen, um das angekündigte Wunder zu schauen.
Unter diesen Umständen ist die Ungeduld bei den Versammelten auf Eröffnung des Abends unsäglich groß.
Ein Aufatmen geht durch die Menge, als sie erfolgt, und mit einem Gefühl größter Genugtuung wird es begrüßt, daß die Geduld der Harrenden nicht über die Zeit auf die Probe gestellt wird.
Der festliche Abend nimmt zur angesetzten Zeit seinen Anfang.
Auf eine stimmungsvolle Einleitung durch ein schönes Musikstück folgt die begeisternde Festrede eines Offiziers Mit kurzen Worten weist dieser zunächst auf die Bedeutung und den Zweck der Veranstaltung hin.
Dann wendet er sich an den Opfersinn der Anwesenden, indem er in ergreifender Weise an die Not des Vaterlandes gemahnt, aus der uns mur bei Einigkeit, bei festem Zusammenschluss, bei Opferwilligkeit bis zum Letzten Errettung werden könne.
Ein Hoch auf unser liebes, großes, stolzes Vaterland, in das alle begeistert einstimmen, bildet den Schluss der beifällig aufgenommenen Rede.
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Nach einer kurzen Pause, ausgefüllt durch die Musik, beginnen die Vorführungen, und nun kommt er, aus den alle warten, nun kommt Camilio Mayer.
In stürmischer Weise wird er von allen Seiten begrüßt und, die ihn noch nicht gesehen, recken den Hals.
Eine gefällige Erscheinung von mittlerer Größe tritt vor den Zuschauer hin.
Mit Bewunderung verfolgt das Auge die Behändigkeit und Gewandtheit der Bewegungen, mustert es den gewaltigen Brustkorb, den kraftvollen und dabei so ebenmäßig gebildeten Körperbau, bis es schließlich durch den Gesichtsausdruck gefesselt wird, in dein ein Zug enthalten ist, der von einem kühnen Willen und unbeugsamer Entschlossenheit spricht.
Camilio Mayer beginnt zu reden. Er berichtet über seine Gefangenschaft.
Er schildert die Leiden der Gefangenen Er erzählt von seinen zahlreichen Fluchtunternehmungen.
Seine Schilderungen fesseln von Anbeginn.
Mit Anteilnahme vernimmt man, wie Camilio so oft seine Kunst Helfer aus Not und Gefahr wurde, und man bedauert nur, daß er sich so kurz fäßt.
Wie gern hätte man noch mehr und Genaueres gehört!
Allein Zeit und Umstände zwingen zur äußersten Kürze, und Camilio beginnt mit seinen Vorführungen.
Es sind verblüffende Zauberkunststücke, die er als Einleitung bringt.
Die Lebhaftigkeit und Lebendigkeit des Süddeutschen kleiden ihn dabei über die Maßen gut.
Sein Witz und Humor reißt alle mit.
Im Nu hat er alle Herzen für sich gewonnen, und, als er seine neckischen Künste beschließt, wird ihm brausender Beifall zuteil.
Einige Kraftdarbietungen verschiedener Art fesseln weiterhin die Aufmerksamkeit der Zuschauer, bis diese durch die zuletzt folgende Glanzleistung dieser Art völlig in den Bann geschlagen wird.
Man hatte ja schon viel von dieser Vorführung gehört aber man konnte doch unmöglich die Erzählungen davon für wahr nehmen.
Gewiß, man hatte zustimmend genickt,
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hatte sein Erstaunen ausgedrückt, aber im Herzen war man zweifelnd geblieben und hatte an Übertreibungen des Erzählers gedacht.
Nun aber sieht es ein jeder mit eigenen Augen, wie Camilio von einem Tische einen Feldstein ergreift und wie er sich anschickt, ihn - mit der bloßen Faust — zu zerschlagen.
Noch sitzt der Zuschauer ungläubig da und kann sich nicht erklären, wie etwas Derartiges möglich sein sollte.
Doch einen Augenblick nur währt dieses Zweifeln, denn schon beginnt der Künstler den Arm gewaltig und mit der ganzen ihm zu Gebote stehenden Kraft im Kreise zu schwingen, und bei dieser gewaltigen Entfaltung von Willen und Kraft schwindet jeder Zweifel dahin.
Einem jeden ist nun klar: Es ist nicht allein möglich, nein, es kann gar nicht anders sein.
Und im nächsten Augenblick zersplittert in der Tat der Stein in mehrere Stücke.
Noch hat sich der Zuschauer von seinem Staunen darüber nicht erholt, da beginnt Camilio von neuem den Arm zu schwingen, um einen anderen, größeren Stein zu treffen.
Er widersteht dem ersten Schlag, dem zweiten und auch dem dritten.
Doch Camilio läßt nicht nach.
Schneller und kraftvoller erfolgen die Schläge Stimmen werden laut: „Es ist genug, Camilio.
Wir glauben es, auch dieser geht entzwei. Schone Dich!“
Doch er hört nicht darauf.
Dichter ziehen sich seine Brauen zusammen, fester pressen sich die Zähne aufeinander, und wilder und wirbelnder wird das Schwingen seines Armes.
Und bei diesem Anblick wird es dem bei sich grübelnden Zuschauer mit einem Male klar, an wen der Gesichtsausdruck dieses Mannes erinnert.
In ihm liegt ein napoleonischer Zug, sein Zug, der von Willenskraft spricht, die über das gewöhnliche Maß hinausgeht.
So kann es denn nicht anders sein.
Im nächsten Augenblick ist auch der zweite Stein zerschmettert, es folgen der dritte und vierte und alle übrigen.
Starr ist der Zuschauer über das Geschaute und wie betäubt.
Nur wie im Traume vernimmt er, daß Camilio jetzt seine Kunst auf dem Hochseile über der Weichsel zeigen will, und nur schwer gelingt es ihm, sich aus der Erstarrung zu lösen.
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Wie im Traume verlässt er den Saal, um sich zur nahen Weichsel zu begeben.
Hier ist schon eine ungeheure, ungeduldig wartende Menschenmenge versammelt Ein lebhaftes Stimmengewirr, ein eiferndes Rufen und Gegeneinander schreien erfüllt die Luft.
Bei der Erregung in der sich alle befinden, vermögen nur wenige aus der Menge auf den herrlich erhabenen Anblick zu achten, den der Strom diesen Abend gewährt.
Ruhig fließt er dahin und in voller Majestät.
Leise plätschern die Wellen, ihr ewiges Lied singend.
Gespensterhaft und magisch wird das Dunkel, in das der Strom gehüllt liegt, hier und da durchbrochen durch den fahlen Schein eines Lichtes, stammend von einem Schiff oder Floß, das er auf seinem breiten Rücken dahinträgt.
Auf einmal flammen die Lampen an den Gerüsten des Hochseiles auf, ihre strahlende, grelle Helligkeit weithin ausstreuend.
Stille tritt bei der Menge unten ein, und alles blickt auf.
Der Wassergott und die Nixen aber fahren jäh aus ihrem Schlummer auf.
Sie kommen herbeigeeilt, um zu sehen, was es gibt, und nun blicken sie ganz verwundert drein, und kopfschüttelnd fragen sie sich, was das, was sie sehen, bedeuten soll.
Schon am Tage zuvor hatte es allerlei gegeben, das ihre Neugierde erregt hatte, als das Seil von diesen Menschen, die ja nie rasten können, hoch in den Lüsten über die Weichsel gezogen wurde.
Es hatte dies viel Arbeit gekostet, es hatte dabei viel Schimpfen, Wettern und Schreien gegeben, aber jene Menschen hatten nicht nachgelassen, bis ihr Ziel erreicht, ihr Wille durchgesetzt war, und nun war doch alles dies so ganz verwunderlich, das Seil dort oben in die Lüsten und die vielen, vielen Menschen zu so später Stunde an den Ufern, und man wusste nicht, woran das alles hinauswollte.
Aber bald sollte des Rätsels Lösung kommen.
Ein Mann löste sich aus der Menschenmenge heraus, kletterte schnell und gewandt aus dem Gerüst zum Seile empor, und kaum ist er oben, so schickt er sich an, das Seil zu betreten, in den Händen eine lange Stange
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vorquer haltend, und im nächsten Augenblick sieht man ihn bereits auf dem Seil, und nun setzt er Fuß vor Fuß, erst langsam und gleichsam zögernd, dann immer schneller und schneller.
Ist es zu Beginn nur ein einfaches Vorwärtsgleiten, so wird es bald ein leichtes Dahinschweben, und dann ist es kein Gleiten, kein Schweben mehr, es wird ein Eilen, ein Laufen, daß kaum das Auge den Füßen folgen kann und es bisweilen scheint, als flöge er dahin, und im ganzen möchte man sagen, es ist so eigentlich ein Tanzen, aber ein Tanzen, wie man es kaum gesehen, ein Tanzen voll bestrickender, erquickender Anmut, voll wahrer, herzerfrischender Kunst.
Und diese bezaubernde herrliche Anmut zeigt sich auch bei allen anderem Übungen, die er vorführt.
Es sind erstaunliche, nie vorher gesehene Darbietungen, die Camilio bringt.
Er setzt sich auf dem Seile mitten über dem Flusse zu Tisch, er ladet herzlichst ein, ihm dazu Gesellschaft zu leisten.
Er geht auf dem Seile auf Stelzen entlang, die Füße in einen Sack gehüllt.
Er schießt Purzelbäume auf dem Seile, vorwärts und rückwärts, er stellt sich frei dort oben auf einen Stuhl, den er im Gleichgewicht hält.
Ja, es sind dies alles im Grunde genommen, so gefährliche Vorführungen, daß sie vor Erregung das Herz des Zuschauers zerspringen machen müssten, wenn er an die Gefährlichkeit derselben dächte.
Aber der Zuschauer steht da, von Freude, Staunen und Verwunderung ergriffen über die herrlichen Bilder, die sich ihm darbieten, und er wird sich der Gefährlichkeit der Vorführungen nicht bewusst.
Wie sollte auch der Gedanke daran bei ihm aufkommen?
Über alle anderen Empfindungen und Wahrnehmungen täuscht hinweg die wundervolle Anmut, und diese fehlt auch jetzt nicht, wo Camilio dort oben das Fahrrad aussetzt und sich anschickt, es zu besteigen.
Langsam und behutsam führt er die Bewegung aus.
Man merkt, sie ist schwierig zu vollenden.
Tiefes Schweigen herrscht drum bei der Menge, atemlos steht ein jeder da und sieht voller Spannung, wie dort oben leise, kaum merklich, das Rad schwankt
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und zittert; aber bald hat Camilio das Rad voll in Gewalt und erhebt sich mit stolzer Ruhe und Sicherheit in den Sattel und führt auf dem Seile dahin.
Und wie er nun dahinfährt, vorwärts und rückwärts, langsam und schnell und immer voll
Ruhe und stolzer Gelassenheit, da ist das ein Bild von derartig überwältigender Schönheit, daß die Menge an den Ufern völlig hingerissen wird, und es sich losbricht wie ein Sturm, ein Ah! ein Jauchzen, ein Jubeln, ein Schreien, ein Toben, das kein Ende nehmen will.
Man möchte nicht glauben, daß Camilio noch mehr dieser letzten Darbietung Ebenbürtiges vorführen könnte.
Aber er weiß die Begeisterung der Zuschauer nicht nur auf gleicher Höhe zu halten, sondern zum Schluß noch zu steigern.
Denn wie zum Schluß Camilio in feldmarschmäßiger Ausrüstung auf dem Seile erscheint, nach einigen militärischen Übungen stramme Haltung annimmt und unter einfallender Musik das Gewehr präsentiert, da kennt die Begeisterung der Menge vollends keine Grenzen.
Die Vorstellung ist zu Ende, der Beifall vertauscht Langsam lösen sich die Menschen aus dem Knäuel, die einen hierhin, die anderen dorthin strebend.
An dem Gerüst sieht man ein Licht nach; dem andern verlöschen, bis der Fluß wieder ins Dunkelheit gehüllt ist.
Die Nixen kehren zurück zu ihren Fluss Palästen, noch lange darüber schwatzend, was sie gesehen, und wenn man dem Murmeln und Plätschern der Wellen lauscht, so ist es, als ob auch sie noch über das Gesehene ihre Meinung austauschen, und ebenso ist es mit den zurückströmenden Menschen.
Sie reden noch lange, je nach Gemütsart mehr oder weniger laut und eifrig, von der Vorstellung, und die einen loben dies, die anderen jenes.
Der eine kann nicht genug Worte finden, um seiner Bewunderung über die den Uebungen zugrunde liegende Kühnheit und Verwegenheit Ausdruck zu geben, einem anderen hat es die überraschende Anmut angetan, und ein dritter weiß nicht genug die Vielseitigkeit und Mannigfaltigkeit der Uebungen zu rühmen.
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In einem Punkte aber herrscht volle Einmütigkeit, und immer wieder wird derselbe Gedanke geäußert, man müsste an Camilio herantreten und ihn veranlassen, seine Erlebnisse niederzuschreiben.
Denn Wunderbares müsste es sein, soviel hätte man schon aus dem knappen Abriß, den er gegeben, entnehmen können.
— Solche Aufforderungen waren aber schon viele an Camilio ergangen, und jeder Tag brachte neue davon.
Gleich damals hatte es damit begonnen, als es ihm gelungen war, der einem Künstler wegen seines großen Freiheitsdranges besonders verhassten Gefangenschaft zu entweichen und als er wieder den heiligen Boden des Vaterlandes begrüßen durfte.
Aber Camilio hatte es anders im Sinn gehabt.
Er hatte die Erinnerung an alles, was er erlebt, als sein persönliches, ureigenes Heiligtum für sich behalten wollen, da jenes so schwer und gefahrvoll gewesen war, daß ihn noch manches Mal die Erinnerung daran übermannen mochte und ihn noch manches Mal die Ereignisse im Schlaf und Traum wieder aufsuchten.
Als indes die Aufforderungen immer zahlreicher und drängender wurden, besonders, nachdem Camilio wieder als Künstler austrat, sah er ein, er müsse ihnen nachgeben, weil es nun einmal der Mensch liebt, von überstandenen Gefahren und Abenteuern zu hören.
Zugleich aber musste er daran denken, daß er so vielleicht etwas dazu beitragen könne, Klarheit über die heißumstrittene Frage „Elsass und die Elsass-Lothringer“ zu bringen, daß aber Klarheit über diese nicht nur dem Wohle der Elsässer, sondern auch dem Deutschlands und Frankreichs und so dem der ganzen Welt dienen dürfte.
Da bei allen Anfragen immer die Neugierde hinsichtlich Camilios Werdegang hindurchblickte und da es notwendig ist, diesen zu kennen, um die Möglichkeit seiner Flucht zu begreifen, so hat er auch darüber dieses und jenes zu Papier gegeben, und so wollen wir denn nun im folgenden hören, was uns Camilio alles zu erzählen hat.
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Der Zug des Herzens ist des Schicksals Stimme.
Überaus verschieden ist gewöhnlich der Werdegang des Künstlers von dem der anderen Menschen.
Das Leben dieser verläuft im allgemeinen regelmäßig und gleichsam nach der Schnur.
Unsicherheit aber Und Unbeständigkeit ist das Kennzeichen der Künstlerlaufbahn und so verschieden der Entwicklungsgang der Künstler im einzelnen sein mag, darin gleicht er sich fast in allen Fällen, daß auch die größten unter ihnen im Beginn ihrer Laufbahn mit Not und Entbehrungen und Schwierigkeiten ohne Zahl zu kämpfen haben.
Auch mir sind, wie aus den folgenden Darstellungen hervorgehen wird, Schmerzen und Leiden, erbitterte innere und äußere Kämpfe nicht erspart geblieben.
Ich bin im Elsass geboren, dem vielumstrittenen Lande, und zwar in dem bekannten Mülhausen, das in der Geschichte so oft eine Rolle gespielt hat und das in den letzten Jahrzehnten durch seine zahlreichen Fabriken eine Hauptstätte deutschen Fleißes und Könnens geworden.
Wir würden eine große Familie sein, wenn alle Geschwister am eben geblieben wären, aber die meisten starben frühzeitig dahin, so daß von meinen zahlreichen Geschwistern nur drei am Leben geblieben sind.
Es sind dies zwei Schwestern und ein Bruder, die sich alle drei in guten Verhältnissen befinden.
Besonders zu erwähnen ist
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Besonders zu erwähnen ist vielleicht, daß die eine Schwester, in deren Adern gleichfalls Künstlerblut rollt, eine in der Schweiz bekannte Opernsängerin ist.
Aus meiner ersten Kindheit ist nichts Besonderes zu erzählen, wenn nicht vielleicht, daß ich schon damals, sehr zum Verdruss meiner Eltern und der Nachbarn, große Neigung zu abenteuerlichen Streichen zeigte.
Aber, diese Neigung steckt gewiss in der Familie.
Denn etwas von der Reise und Abenteuerlust, die mich beseelt, ist schon bei meinen Vorfahren zu finden.
Mein Großvater z. B. wanderte seinerzeit nachdem französischen Afrika aus.
Mein Vater wieder kehrte von dort nach Europa zurück, und hier ist er erst viel hin- und hergezogen, bis er sesshaft wurde.
Viele Jahre hat er in Frankreich gelebt, als Schiffer hat er es oft und viel durchquert, bis er sich zuletzt in Deutschland dem Ursprungsland der Familie, dauernd niederließ.
In Mülhausen lernte er meine Mutter kennen und lieben, vermählte sich mit ihr und begründete mit ihr dort seinen Hausstand.
Durch Fleiß und Unternehmungslust gelang es ihm bald, sich eine einträgliche Stellung zu erwerben, die ihm ermöglichte, für Ernährung und Erziehung seiner Kinder in ausreichender Weise Sorge zu tragen.
Für mein Leben wurde von entscheidender und bestimmen der Bedeutung das Erscheinen einer Kunstarena in Mülhausen.
Unter den Darbietungen erweckten die Vorführungen eines Seiltänzers in den Herzen von uns Jungen wahre Begeisterung.
Ihm nachzuahmen, war bald unser größter Ehrgeiz, war unser liebstes Spiel.
Kein Balken, keine Stange, ob Eisen oder Holz, überhaupt kein Gegenstand, wo man jene Übungen vornehmen konnte, blieb verschont.
Dabei war ich von Anfang an der Anführer und zeigte von vornherein eine solche Geschicklichkeit und Gewandtheit, daß keiner der übrigen Jungen sich mit mir messen konnte.
Bei meinen Spielfreunden legte sich natürlicherweise mit der Zeit die Begeisterung und Freude an diesen Übungen, und andere Spiele traten an ihre Stelle.
Anders aber bei mir.
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Je mehr ich übte, desto größer wurde mein Eifer, desto brennender die Begierde, mich zu vervollkommnen, und bald gab es auf die Frage, was ich werden wollte, keine andere Antwort als die: »Ich will ein großen Turmseilkünstler werden.«
Da meine Eltern sich von einem Beruf dieser Art nicht viel versprechen mochten, wollten sie auch von meinem Vorhaben nichts wissen, und so wurde ich, als ich die Schule verließ, ohne Rücksicht auf meine Wünsche in eine Fabrik in die Lehre gegeben, damit ich etwas lernte, wodurch ich mir später mein Brot verdienen könnte.
Hier war meine erste Beschäftigung Zettel zu kleben.
Das war eine mechanische und im Grunde eintönige Arbeit, die mir bei meinem lebhaften, wagehalsigen Wesen nicht zusagen konnte, und die Folge war, dass ich mich bald tief unglücklich fühlte und schwer an innerem Kummer trug.
Doch ein Gutes gab es bei dieser Arbeit für mich, und das war, daß ich ungestört meinen Träumereien und Gedanken nachhängen konnte, ein Vorteil, den ich mit aller Gründlichkeit ausnutzte, und nur zu oft wanderten meine Gedanken von meiner Beschäftigung ab, und zwar mit Vorliebe zu den Vorführungen jenes Seiltänzers, der uns Jungen seinerzeit so begeistert hatte.
Ich hatte noch ganz deutlich das Bild vor Augen, wie der in schwindelnder Höhe auf seinem Seile mühelos und; mit aller Anmut dahinglitt.
Ich konnte mich noch ganz genau aller Einzelheiten erinnern, ich wusste noch sehr gut, welche Übungen er vorführte, und wenn ich mir dies alles vergeigen wärtigte, und wenn ich dann weiter an meine gegenwärtige Lage dachte, dann durchzuckte mich ein namenloses Weh.
Warum durfte ich denn nicht jenem Künstler nacheifern?
Warum musste ich hier meine Zeit bei einer Beschäftigung verbringen, die mir nicht zusagte?
Wie anders würde ich doch im Künstlerberuf bei der Arbeit sein!
Und dann kam es nicht selten vor, daß mein armes, gemartertes Herz wild aufbegehrte und daß ich es nur mit Mühe meistern konnte.
Denn ein schier unbezwingliches Verlangen:
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»Auf und davon« mochte mich packen, und im Geiste mochte ich mich schon selbst wie jenen Künstler durch die Luft schweben sehen, von tosendem Beifall umbraust.
Aus meiner Unzufriedenheit mit meiner Tätigkeit machte ich meinen Eltern gegenüber kein Hehl, und so gab mich mein Vater nach einem Vierteljahr auf eine andere Arbeitsstelle in die Lehre, in der Hoffnung, daß es mir dort besser gefallen würde.
Allein nach kurzer Zeit wechselte ich schon wieder.
Und da es mir nun doch nirgends gefallen mochte, geschah dies noch des öfteren innerhalb eines Jahres.
Es gab eben nur eine Tätigkeit, die ich gern ausübte aber dieser durfte ich mich nicht offen widmen.
Man sieht, daß meine Eltern Sorge und Kummer genug mit mir hatten, aber sie verzweifelten an mir nicht.
Weder mein Vater und noch viel weniger meine Mutter verloren das Vertrauen zu mir und die Hoffnung, daß ich doch noch einmal etwas Tüchtiges werden würde, und das gedenke ich ihnen noch heute mit einem überquellenden Gefühl tiefster Dankbarkeit.
Während ich offen meine Lieblingsbeschäftigung nicht betreiben durfte, ging ich ihr mit allem Eifer und einer stetig wachsenden Willenskraft heimlich nach.
Keine Gelegenheit ließ ich entschlüpfen, mich in der Kunst des Seillaussens zu üben.
Keinen Augenblick ließ ich unbenutzt vergehen, und ich verstand es ausgezeichnet, mein Tun zu verbergen. Mein Weg zur Arbeitsstätte führte durch einen Wald, dort gab es eine verborgene versteckte Stelle, wo ich gewiß fein konnte, ungestört zu bleiben.
Hier befestigte ich mein Seil und übte, wann ich nur konnte, auf dem Wege von und zu der Arbeit, und wenn ich nur immer von ihr frei war.
Unter diesen Umständen erreichte ich es, daß ich mich immer mehr vervollkommnete und am Schlusse des Jahres über ein für mein Alter nicht unbedeutendes Können verfügte.
Am Anfang des nächsten Jahres stieß mir allerdings ein arges Missgeschick zu, das mir eigentlich alle Lust zum weiteren Üben hätte nehmen sollen.
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Am 1. November, dem Festtage Allerheiligen, war ich mit meinen Freunden in den Wald gegangen, um, wie schon öfter, Raben zu fangen; dabei hatte es wieder, wie sonst, viel Spaß gegeben.
Frohmut und Jugendlust schäumten bald über, und schließlich fühlte ich mich getrieben, meinen Gefährten meine Kletterkünste an einem Baume zu zeigen.
Meine Freunde spendeten mir freudig Beifall.
Voller Übermut und Stolz darüber, kletterte ich höher, bis ich in die höchste Spitze des Baumes gelangt war.
Dort schaukelte ich mich lustig hin und her und stimmte das bekannte Andreas-Hofer-Lied an, in das meine Kameraden aus voller Begeisterung mit einfielen.
Da wurde ich unter mir eines Astes gewahr, der vom Nachbarbaume herüberreichte.
Sofort kam mir der Gedanke, mich gleichsam zur Krönung meiner vorgeführten Leistungen auf denselben hinunterzuschlingen.
Wir waren in unserem Gesange bis zur letzten Strophe gekommen, wo es da heißt: »Gebt Feuer!
Ach, wie schießt ihr schlecht!«
Dies schien mir der geeignete Augenblick für die Ausführung des gehegten Gedankens zu sein, und gerade bei den Worten: »Gebt Feuer!« schwang ich mich herunter.
Ich landete glücklich auf dem erwähnten Ast, und ein Jauchzen entrang sich meiner Brust.
Aber ach!
Zu früh gejubelt! Der Ast, auf dem ich gelandet, hatte nicht die Kraft, eine so gewaltige Erschütterung zu ertragen, wie sie ihm plötzlich zugemutet wurde, brach ab und fiel mit dem unbequemen Gast zu Boden.
Dieser stürzte dabei derartig, daß er sich nichtmehr erheben konnte, da er sich eine Verletzung des Rückgrates zugezogen hatte.
Er musste nach Hause getragen werden und hatte nun nicht wenig zu leiden.
In einen Gipsverband gelegt, musste er lange Wochen still auf dem Rücken liegen.
Man hätte meinen sollen, daß mich dieser Unfall und die überstandenen Leiden von meiner Sehnsucht, Künstler zu werden, und von meinem Hange zu Kletterkünsten endgültig und restlos geheilt hätte.
Allein dem war nicht so.
Einige Wochen nach meiner Wiederherstellung versuchte ich mich schon wieder auf dem Seil, und mein Wunsch, Künstler zu werden, war stärker denn je.
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Nur über den einzuschlagenden Weg war ich mir noch nicht recht klar.
Allerlei Plane, zum Teil recht phantastischer Art, durchkreuzten mein Hirn, doch noch immer bangte mich vor der Ausführung, und es war schließlich gut so, denn ich war noch zu sehr Kind, zu sehr Knabe für solche Unternehmungen, und es wäre schließlich nichts dabei herausgekommen.
Eine innere Stimme aber sagte mir, habe nur Geduld, die Zeit wird dir schon den rechten Weg zeigen.
Ein Jahr später erfolgte dann der Anstoß, der die Sache ins Rollen brachte.
Zu dieser Zeit hatte ich Gelegenheit Vorführungen in einem Zirkus, darunter auch solche auf dem Seite, zu sehen.
Dies Erlebnis erweckte all mein Sehnen, all mein Wünschen aufs neue und schürte sie zu unwiderstehlicher Glut.
Nun war es vorbei mit allem Zögern, vorbei mit allem Zaudern, und der Entschluss stand fest, auf und davon zu gehen und mich einer Künstlertruppe anzuschließen.
Denn ich sagte mir: Es ist klar, daß du die Einwilligung deiner Eltern, Künstler zu werden, nicht wirst erlangen können, es ist aber auch klar, daß du dich sonst nie glücklich fühlen kannst.
Die Zeit ist kostbar, jetzt oder nie, und eines Tages war ich denn verschwunden.
Wohlweislich reiste ich nicht dem genannten Zirkus nach, da ich dann darauf hatte gefasst sein müssen, von meinem Vater sofort wieder zurückgeholt zu werden.
Um meine Spuren ganz zu verbergen, lenkte ich meine Schritte der Grenze zu und wanderte, wie so mancher jugendliche Abenteurer Deutschlands nach Frankreich.
Ich kam bis Belfort, wo ich fürs erste zu bleiben beschloß.
Ich suchte meinen Paten auf, der hier wohnte, um ihn um Rat und Unterstützung zu bitten.
Dieser verschaffte mir, damit ich mir meinen Lebensunterhalt gewänne, eine Stelle als Fuhrmann.
Als solcher hatte ich Materialien zur Ausführung von Grundarbeiten zu fahren, Lange sollte ich jedoch diese Arbeit nicht ausführen, da mir bald ein arges Missgeschick zustieß.
Ich hatte ja als Fuhrmann ohnehin wenig Erfahrung, am wenigsten aber wußte ich mit diesen zweirädrigen Wagen umzugehen,
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wie wir sie dort hatten und wie sie in Frankreich so gebräuchlich sind.
Ich weiß nun nicht mehr recht, wie es gekommen ist, jedenfalls aber lag es daran, daß ich ungeschickt gefahren war, und während ich beim Abladen tätig war, kam plötzlich der Wagen nach rückwärts, nach der Grube zu, ins Rollen.
Das aufgeschreckte Pferd sprang nach vorn ins Geschirr, um den Wagen aufzuhalten Vergebens!
Die Wucht des schwer beladenen Wagens war zu gewaltig; jäh wurde das Pferd nach hinten in die Höhe gerissen, so daß es sich überschlug und samt dem Wagen in die Grube sauste.
Zerschmettert lag beides da.
Ein eisiger Schreck war mir in die Glieder gefahren.
Mit Entsetzen betrachtete ich den angerichteten Schaden, und ich war über mein Unglück trostlos.
Zugleich vergegenwärtigte ich mir, daß ich für den Schaden würde aufkommen müssen und daß man mich, da ich so gut wie gar keine Mittel besäße, vielleicht gar einsperren würde.
Hilfesuchend blickte ich um mich, doch weit und breit war niemand zu sehen.
Da, kaum war mir diese Tatsache zum Bewusstsein gekommen, schoss mir wie der Blitz der Gedanke durch den Kopf, sei kein Narr, auf und fort, ehe es jemand sieht.
Gedacht, getan. Ich ließ alles stehn und liegen, wie es war, und machte mich eilends aus dem Staube, ohne auch nur einen Blick nach rückwärts zu tun.
Ich eilte schnurstracks dem Bahnhof zu, ohne indes einen bestimmten Plan zu haben bezüglich dessen, was ich tun wollte.
Welche Freude war es da für mich, als ich auf dem Bahnhof Bekannte aus Mülhausen erblickte!
Mir fiel ein Stein vom Herzen. So war ich denn nicht allein in diesem fremden Lande.
Meine Freunde waren natürlich ihrerseits nicht wenig erstaunt, mich in Belfort zu sehen, und als sie von meinem Unglück hörten, lachten sie herzlich, und da sie auf der Rückwanderung nach Deutschland begriffen waren, forderten sie mich auf, mich ihnen anzuschließen und den Staub Frankreichs, in dem ich so wenig Glück gehabt hätte, von meinen Füßen zu schütteln.
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Ich tat, was sie mir rieten, denn ich glaubte, nichts Besseres tun zu können.
Während sie jedoch nach Mülhausen wollten, beabsichtigte ich selbst, mich nach: Straßburg zu begeben.
Meine Gefährten belustigten sich noch lange über das mir widerfahrene Missgeschick.
Ich selbst aber befand mich in keiner rosigen Stimmung, das Missgeschick, das ich gehabt hatte, ging mir sehr nahe.
Ich war außerordentlich niedergeschlagen, mich quälte das demütigende Gefühl, dass ich ein Erlebnis hinter mir hatte, bei dem ich mich nicht als Held gezeigt hatte.
Was war nun geworden aus meinen wilden, tollkühnen und hochhinausgehenden Plänen Recht wenig, musste ich mir sagen; und so im innersten Herzen stellte sich mir die bange und quälende Frage: »Bist du vielleicht ein Prahlhans, Camilio?«
So dachte ich damals, aber wenn ich jetzt an jene Zeit zurückdenke, so geschieht es nur mit einem Gefühl der Genugtuung und Freude darüber, daß alles so gekommen war, wie es geschildert ist.
Denn in welcher Gefahr hatte ich doch damals geschwebt, wie leicht hätte damals der Weg, wie bei so manchem anderen deutschen Jüngling, in der Fremdenlegion enden können; dann bleichten jetzt meine Gebeine längst in der Wüste, oder ich wäre gezwungen gewesen« gegen mein eigenes Vaterland zu kämpfen Allem diesen war ich entgangen.
Meine Freunde merkten meine niedergedrückte Stimmung, sie suchten mich zu überreden, mit ihnen nach Mülhausen zurückzukehren Davon wollte ich jedoch nichts wissen.
Denn ich hatte es mir nun einmal gelobt, nicht eher in mein Elternhaus zurückzukehren als bis ich es zu etwas gebracht, und dies Gelöbnis wollte ich auch halten.
Freilich, die Zukunft lag trübe und unbestimmt vor mir.
Ich hatte nichts, das mir die Aussicht auf Verwirklichung meiner Pläne gab, und meine Lage war um so peinlicher, da meine Mittel erschöpft waren, aber dennoch lebten in meinem Herzen unerschütterlich Hoffnung und Zuversicht.
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Als wir über die Grenze kamen, gab es noch ein recht aufregendes Erlebnis.
Ein Gendarm, der uns begegnete, musterte uns neugierig, und plötzlich trat er zu uns heran, packte mich bei der Schulter und rief: »Halt, da hätten wir dich ja, Bürschchen!«
Und ohne sich um unsere Bestürzung zu kümmern, befahl er uns, zur Wachtstube zu folgen.
Dort wurden wir einem strengen Verhör unterworfen, bei welchem allen, besonders mir, recht wunderlich zu Mute wurde.
Was wir zunächst erfuhren, war, daß ich steckbrieflich verfolgt würde.
Das mochte schon möglich sein, und ich dachte daran, daß dies von meinen Eltern ausgehen könnte.
Wir blickten uns aber verdutzt an, als wir weiter hören mussten, daß ich aus Hannover stammen sollte und daß ich dort Unterschlagungen verübt haben sollte.
Es war umsonst, daß ich und meine Freunde beteuerten, ich sei aus Mülhausen und hätte mit dem Gesuchten nichts zu tun.
Erst als durch telefonische Erkundigungen die Wahrheit unserer Aussagen bestätigt worden war, ließ man uns wieder laufen.
Wir kamen nunmehr unangefochten weiter.
Nach einiger Zeit näherten wir uns dem Städtchen Lutterbach i.E.
Der Marsch, den wir hinter uns hatten, hatte uns sehr ermüdet.
Darum gedachten wir, in Lutterbach einige Zeit Halt zu machen und zu ruhen.
Die Aussicht auf Erfrischung und Rast ließ uns schneller ausschreiten, und munterer gingen wir unseren Weg dahin.
Während wir nun so auf das Städtchen zuwanderten, ahnte ich nicht, von welcher Bedeutung es für mich werden würde.
Hier aber sollte ich finden, wonach mein Herz so sehnlichst begehrte und wonach ich schon so lange vergeblich gesucht hatte.
Wir hatten das Städtchen erreicht.
Unser Weg führte uns am Bahnhof vorbei.
Da machte mich einer von meinen Gefährten ans eine große Orgel aufmerksam, wie sie Karussells und Luftschaukeln und die offenen Wanderzirkusse mit sich führen.
Bei ihrem Anblick war sofort alle Ermüdung und Ermattung völlig vergessen.
Eine gewaltige Aufregung bemächtigte sich meiner.
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Blitzschnell schoß mir der Gedanke durch den Kopf:
Wie wundervoll, wenn das ein Wanderzirkus wäre.
Unwillkürlich beschleunigte ich meine Schritte, weit eilte ich meinen Freunden voraus, und richtig, da erblickte ich auch schon eine Gruppe von Männern, die man nach Kleidung und Aussehen für Künstler halten musste.
Im Nu war ich bei ihnen.
Und welche Freude war es für mich; als ich aus ihrem Munde erfuhr, daß ich mich wirklich nicht getäuscht hätte!
Sofort ließ ich mich zum Direktor führen, und ich beschwor ihn aufs flehentlichste, mich mit der Truppe mitziehen zu lassen.
Dieser musterte mich zunächst, wie ich so erhitzt und über und über bestaubt vor ihm stand, mit einiger Verwunderung, und ich befürchtete bereits, eine Absage zu erhalten.
Aber es konnte ihm doch schließlich nicht gar so etwas Neues sein, daß sich ein junges Bürschchen von der Straße weg zur Künstlertruppe meldete.
Wie viele unter den Künstlern kommen nicht auf gleiche oder ähnliche Weise in diesen Beruf hinein.
Solche und ähnliche Gedanken mochten auf ihn entscheidend einwirken, und als ich mit meinen Bitten nicht nachließ, willigte er dann auch nach einigem Zaudern ein und machte mich damit zum glücklichsten der Menschen.
In meinem Herzen jubelte es auf, froher Stolz ließ es höher schlagen.
Welch ein köstliches, unbeschreibliches Gefühl war es doch, nun endlich einer wirklichen Künstlertruppe anzugehören!
Die Unsicherheit, die Unbestimmtheit, die bisher wie ein Alp auf mir gelastet hatte, war aus meinem Dasein getilgt.
Ich hatte festen Boden unter die Füße bekommen, ich war auf einen Weg gelangt, der mich zu meinem Ziele, ein großer Künstler zu werden, wohl führen konnte, und im Geiste malte ich mir schon aus, wie wunderbar es sein würde, wenn ich es dahin gebracht hätte.
Und alles, was ich zunächst bei der Truppe sah und erlebte, war so recht dazu angetan, meine Freude und Zufriedenheit noch zu erhöhen Welch eine Lust war es doch, so sorgenlos um herzuziehen, bald hierhin, bald dorthin.
Und wir zogen viel umher.
Wir reiften im Badenschen und Württembergischsen,
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durch lauter reizvolle und romantische Gegenden, in denen der Anblick der Natur das Herz des Menschen so ganz mit Freude und Andacht erfüllen kann.
Wie wonnig, wie abwechslungsreich war doch dies freie und ungebundene Wanderleben, das mit der Natur so innig verknüpft erschien, wo man so viel von der Welt und den Menschen zu sehen bekam.
Immer neue Gegenden, immer neue Dörfer, neue Städte, andere Menschen, andere Sitten lernte man kennen. Und da gab es dann nicht selten Augenblicke, wo ich sie bedauert habe, die anderen Menschen, die sesshaften, die ständig in des Alltags Einerlei kleben, kaum von dem wunderbaren Schalten und Walten in Gottes ewiger Natur etwas verspüren und nur in Büchern von ihrer Unendlichkeit und Schönheit etwas erfahren.
Nur eins bekümmerte mich mit der Zeit und bedrückte mein Herz immer mehr und mehr, und das war, daß sich der Direktor nicht nur keinerlei Mühe gab, mich zum Künstler auszubilden, sondern sogar alles tat, um meine Ausbildung zu unterbinden.
Meines Amtes war und blieb lediglich, Besorgungen zu machen und kleine Dienstleistungen während der Vorstellungen zu erweisen, und ich mußte mir schließlich mit einem Gefühl größter Bitterkeit sagen, daß ich eigentlich nichts anderes als ein Laufbursche war.
Gewiss war dies anfangs nicht anders zu erwarten.
Man muß nun schon mal klein anfangen, aber ich hätte wohl erwarten dürfen, daß der Direktor mich hin und wieder üben ließ.
Doch das geschah nicht, und als ich dann selbst auf eigene Faust meine Ausbildung unternahm, verbot er mir solches.
Aber ich ließ mich dadurch nicht beirren.
Durfte ich es offen nicht tun, so tat ich es dann eben wieder heimlich.
Früh morgens, wenn noch alles schlief — im Sommer häufig schon um 3 Uhr früh — war ich bei der Arbeit, und ich übte mit Fleiß und hartnäckiger Beharrlichkeit die Übungen ein, die ich die anderen Künstler machen sah und auch solche, die ich mir selbst erdachte.
So war ich nach einiger Zeit derart ausgebildet, daß ich sehr wohl als Künstler hätte austreten können. Doch als ich mir ein Herz nahm und den Direktor um die Erlaubnis bat,
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ebenfalls austreten zu dürfen, wollte er davon nichts wissen.
Denn da ich keine Ausweispapiere und keinen Gewerbeschein besaß, befüchtete er, unter Umständen Misshelligkeiten und Unannehmlichkeiten von meinem Auftreten zu haben; und da half kein Bitten, kein Flehen, er ließ sich nicht umstimmen.
Da war denn mein Kummer übergroß.
Ich fragte mich voll des tiefsten Schmerzes, wie aus mir unter solchen Umständen ein wahrhafter Künstler werden sollte, und die Folge war, daß mir fortan der Aufenthalt bei der Truppe verleidet war und ich den Gedanken erwog, mich einer anderen Truppe anzuschließen. Aber welcher?
Wo eine finden, der man sich anvertrauen konnte?
Auf unseren weiteren Reisen durch das Land kamen wir nun eines Tages in das Städtchen Saubgau (Württemberg).
Hier lernte ich einen jungen Künstler einer anderen Truppe kennen, die in einem Flecken der Nachbarschaft Vorstellungen gab.
Wir wurden vertraut, wir wurden befreundet, und eines Tages schüttete ich ihm mein Herz aus und klagte ihm mein Leid, und als ich ihm dann vorführte, was ich konnte, war er außer sich vor Bewunderung und redete mit aller Macht auf mich ein, ich sollte doch ja kein Tor sein und weiter bei dieser Truppe verbleiben.
Ich sollte doch lieber mit ihm mit zu seiner Truppe kommen, dort würde ich ohne weiteres die Stellung finden, die mir zukäme.
Das leuchtete mir alles vollkommen ein, und so lies ich mich überreden.
Ich ging zum Direktor und teilte ihm mit, daß ich ihn verlassen wolle, weil er mich ja doch nicht zum Künstler ausbilde.
Da gab es denn zunächst einen heftigen Zank und Streit, denn der Direktor hatte mich so gut verwenden und gebrauchen können, daß er die gute Hilfe, die er an mir hatte, nicht gern verlieren wollte.
Aber als er sahs, daß ich fest entschlossen war, ihn zu verlassen, und von meinem Plan nicht abstehen würde, ließ er mich doch schließlich gehen.
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So wanderte ich denn mit meinem Freunde dem neuen Zirkus zu.
Ich war natürlich voller Erwartung, was dies für ein Zirkus sein würde.
Der Weg dorthin war nicht weit, und so sollte meine Neugierde bald befriedigt werden.
Nach einem kurzen Marsche wurden wir des Zirkus ansichtig.
Aber ach, welch ein unendlicher Schmerz ergriff mich bei seinem Anblick.
Schon von ferne war zu erkennen, daß es einer der armseligsten und kläglichsten sei, und je näher wir kamen, desto mehr bestätigte sich dieser erste Eindruck.
Mein Herz krampfte sich zusammen, am liebsten wäre ich sogleich wieder umgekehrt.
Doch was sollte ich tun? Ein Zurück gab es nicht mehr.
Hinter mir waren alle Brücken abgebrochen, ich mußte sehen, wie ich mich mit der Sachlage abfand.
Das einzige, was mir zu tun übrig blieb, war, daß ich meinen Schmerz tapfer unterdrückte.
Sonst bewahrheitete sich alles, was mir mein Freund erzählt hatte. Ich wurde sofort als Künstler in Dienst genommen, und noch am selben Abend trat ich auf.
Das war immerhin ein gewisser Trost für mich.
Aber was für ein dürftiger Trost!
Denn die wirtschaftliche Lage der Truppe war schlecht Bei der erbärmlichen Aufmachung und den mäßigen Leistungen waren und blieben die Einnahmen gering.
Es kamen bedenkliche, es kamen peinliche Augenblicke, und mit Anbruch der schlechten Jahreszeit wurde es täglich schlimmer.
Eines Tages war es dann soweit, daß kein Futter mehr für die Pferde vorhanden war, da wusste sich der Direktor keinen anderen Rat, als uns den Auftrag zu geben, betteln zu gehen.
Als ich diese Zumutung empört zurückwies mit den Worten: »Ich bin ein Künstler und kein Bettler«, geriet der Direktor in höchste Wut, stürzte sich auf mich und schlug mich, und das war das Bitterste, was ich während meiner Künstlerlaufbahn erlebt.
Ich war ihm wehrlos preisgegeben.
Was konnte ich tun?
Ich war ja noch ein Knabe Aber mein Stolz bäumte sich auf, und aufs äußerste empört
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über die angetane Schmach, verließ ich die Truppe auf der Stelle.
Damit war jedoch meine Lage wenig gebessert, denn ich lag sozusagen auf der Straße, ungewiss, wohin ich mich wenden sollte, ungewiss, wovon ich leben sollte.
Der Winter war da, somit bestand keine Aussicht, bei einer anderen Künstlerstruppe unterzukommen, und ich durfte mir auch wenig Hoffnung aus andere Arbeit und andere Beschäftigung machen.
In der Meinung, daß es mir in einer größeren Stadt noch am ersten möglich sein werde, mich durchzuschlagen, entschloß ich mich, mich nach Stuttgart zu begeben.
Aber wie dorthin gelangen? Ich hatte kein Geld.
So blieb mir denn nichts anderes übrig, als die Strecke zu Fuß zurückzulegen.
Die Wanderung wurde bald mühsam und beschwerlich, da starker Schneefall eintrat.
Oft konnte ich mich nur mit Mühe durch den Schnee hindurcharbeiten Mein Schuhzeug war bald völlig abgenutzt, so daß ich schrecklich unter erfrorenen Füßen zu leiden hatte.
Auf die Dauer war mein Körper diesen Strapazen nicht gewachsen, und ich wurde ernstlich krank.
Ich hatte noch soviel Geld, um mit der Post bis Balingen fahren zu können.
Dann musste ich mich ins Krankenhaus begeben.
Hier lag ich schwer danieder.
Aber ich wurde auf das sorgfältigste gepflegt, und so erholte ich mich denn bald wieder, und der Zeitpunkt, wo ich das Krankenhaus wieder verlassen musste, kam heran.
Wie erstaunte ich nun, als ich seines Tages einen Brief von meinen Eltern erhielt, in dem meine Eltern mich baten nach Hause zurückzukehren Und besonders meine Mutter beschwor mich in inständiger und zu Herzen gehender Weise, dieser Bitte Folge zu leisten.
Dem Brief war Geld für diese Rückreise beigelegt.
So waren meine Eltern also doch auf meine Fährte gekommen Ich konnte mir nicht erklären, wie ihnen das gelungen sein mochte.
Da gab es nun einen heißen Kampf in meinem Herzen, denn ich liebte und verehrte meine Mutter über alles.
Aber andererseits vermochte ich es nicht recht über mein Herz zu bringen,
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in dem Zustand, in dem ich mich befand, zurückzukehren.
Wie anders hatte ich mir doch« die Rückkehr nach Hause vorgestellt!
Nein, so wollte ich nicht vor meine Eltern treten.
Erst wollte ich es zu etwas bringen.
Aber meine Eltern hatten einen vortrefflichen Bundesgenossen in meiner freundlichen Pflegerin.
Diese hörte nicht auf, mir zuzureden, und sie verstand es so gut, mich an meine Kindespflicht zu gemahnen, dass ich schließlich doch nachgab und die Heimreise antrat.
Als ich zu Hause ankam, fand ich nur meine Mutter vor.
Mein Vater war noch bei der Arbeit.
Wie war die Mutter über die Maßen froh, als sie mich erblickte und als sie ihren Ausreißer und verlorenen Sohn nun so plötzlich wieder in den Armen halten konnte!
Sie konnte sich kaum vor Freude fassen, und vergaß dabei jeden Vorwurf und Tadel.
Nachher kam der Vater, auch er war so freudig überrascht, daß er nur wenig schalt.
So hatte diese mit den größten Hoffnungen unternommene Ausfahrt nach manchen Wechselfällen zwar nicht nach meinen Wünschen, aber immerhin erträglich geendet.
Ich blieb nun den ganzen Winter über bei meinen Eltern, half ihnen im Geschäft und ging ihnen mit Eifer in allem zur Hand.
Dabei hatte ich meinen Plan, Künstler zu werden, zum großen Schmerze meiner Eltern nicht aufgegeben.
Diese versuchten immer wieder, mir mein Vorhaben auszureden, und es war vergebens, wenn ich ihnen sagte: »Seht, ich hänge nun einmal mit allen Fasern meines Wesens am Künstlerberuf.
Mein innerstes Gefühl sagt mir, daß ich hierin allein Hervorragendes leisten werde.
Zwingt ihr mich dazu, ihm zu entsagen, so könnt ihr gewiß sein, daß ihr mir alle Freude und Zufriedenheit raubt.
Es ist wahr, ich habe mir einen gefahrvollen Beruf ausgesucht Doch kann mir nicht auch in einem anderen Berufe Unglück zustoßen?«
Solche Worte mochten im Augenblick ihre Wirkung nicht verfehlen, doch war diese leider nie von Dauer, und als ich im Frühjahr nach Colmar reiste,
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um mich der Kunstarena Dominikus anzuschließen, ließen sie mich nur schweren, bekümmerten Herzens ziehen.
Aber diesmal sollte aus meinem Vorhaben noch nichts werden.
Als ich in Colmar ankam, war die Truppe schon fort.
Da ich nicht erfahren konnte, wo sie hingezogen war, kehrte ich wieder nach Hause zurück und verblieb weiter bei meinen Eltern, indem ich abzuwarten beschloss, bis ich Kunde von einer anderen Truppe erhalten würde.
Des Sonntags aber gab ich auf eigene Faust Vorstellungen im Dolder Walde bei Mülhausen, die mir jedesmal einen nicht unbedeutenden Gewinn einbrachten.
Das so erworbene Geld verwandte ich dazu, mir die Kleidungsstücke anzuschaffen, die ich als Künstler brauchte
So waren einige Wochen vergangen, als eines Tages sein Freund kam und mir mitteilte, daß der Zirkus Dominikus in Lützelstein i. Elsaß zu finden sei.
Sofort reiste ich dorthin ab, und diesmal hatte ich Glück.
Da ich mich als Turmseilkünstler ausgab, wurde ich sogleich angenommen, unter der Bedingung, daß ich noch am selben Abend austreten sollte.
Der Abend kam heran, klopfenden Herzens von mir erwartet.
Die Vorstellungen begannen, und endlich war die Reihe an mir, meine Kunst zu zeigen.
Wie ich zum Seile emporstieg, pochte mir gewaltig das Herz.
Wird es gelingen? so fragte ich mich bang.
Wohl wußte ich, daß ich genügende Gewandtheit und Sicherheit besaß.
Doch meine Aufgabe war heute, meine Kunst auf einem 20 Meter hohen Seile zu zeigen.
Bisher war ich nur auf einem niedrig gespannten Seil gelaufen.
Unten war kein Netz, ein Fehltritt bedeutete den sicheren Tod.
Unter solcherlei Gedanken langte ich oben an.
Bevor ich beginne, vermag ich mich nicht zu enthalten, einen Blick nach unten zu werfen.
Da wird es mir schwarz vor den Augen.
Wie klein sind die Zuschauer, wie verschwindet der Boden förmlich unter mir!
Wie ein Schleier legt es sich um meine Augen, und für einen Augenblick überkommt es mich wie ein Schwindel.
Doch einen Augenblick nur, und sogleich schießt mir der Gedanke durch den Kopf:
»Bist du ein Prahlhans Camilio?«
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und da geht ein gewaltiger Ruck durch meinen Körper: »Nein, nur das nicht!
Lieber mögen sie mich zerschmettert hinaustragen!«
Und ich rufe mir selbst zu: »Du willst, du mußt, Camilio.
Komme, was da wolle, du mußt, du mußt du selbst sein!«
Und nun ist alles Bangen und Zagen abgeschüttelt.
Mein ganzes Sinnen ist auf das eine Ziel gerichtet, meine Kunst im besten Lichte zu zeigen.
Dazu nehme ich meine ganze Kraft zusammen.
Furchtlos und unverzagt gleite ich mit dem rechten Fuße vor.
Im selben Augenblick beginnt auch die Musik zu spielen.
Ihre Töne eilen mir wie elektrische Wellen durch den Körper.
Mir wird so leicht.
Ein Gefühl größter Sicherheit überkommt mich, sicher und ruhig schwebe ich dahin, und alles geht gleichsam wie spielend, als wäre ich hier oben zu Hause, und ich kann mich nicht enthalten, über mich selbst zu staunen.
Schon ist das andere Ende erreicht.
Wie schnell war das gegangen!
Eine kleine Ruhepause nun, und dann zurück! Bis zur Mitte zunächst!
Dort lege ich mich hin und schieße rücklings den Purzelbaum, und dann folgen die übrigen Darbietungen.
Der Direktor ist voller Unruhe über meine Wagehalsigkeit, gibt mir durch Rufen und Zeichen zu verstehen, weniger tollkühn zu sein.
Doch ich achte nicht darauf und Vollbringe in derselben unbekümmerten Weise alle meine übrigen Vorführungen.
Und als ich dann mit meinen Vorführungen zu Ende bin und zur Erde heruntersteige, heil und unversehrt, und als mich begeisterter, brausender Beifall empfängt, da habe ich das Bewusstsein, daß mir der große Wurf meines Lebens gelungen sei und daß ich mich durchgekämpft habe.
Von nun an ging die Bahn hinan.
Die Zeit, die ich als Künstler bei dem Zirkus Dominikus-Stey verbrachte, ist mir in guter Erinnerung verblieben.
Der Direktor verfügte über tüchtige Kräfte.
Infolge der guten Leistungen der Truppe war auch der Zulauf recht bedeutend, so daß wir uns immer in guten Verhältnissen befanden.
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Der Direktor war von meinem ersten Auftreten entzückt gewesen und hatte mich aufs herzlichste zu meinen guten Leistungen beglückwünscht.
Besonders hatte er die Feinheit und Anmut meiner Bewegungen gelobt, und er versicherte mir mehr als einmal, daß ich einst ein erstklassiger Künstler werden würde.
Da der Direktor selbst ein Turmseilkünstler war, traten wir in der folgenden Zeit gemeinschaftlich auf.
Überall, wohin wir kamen, waren uns große Erfolge beschert.
Doch nicht immer lächelte uns ungetrübt die Sonne des Glückes.
In Saaralpen stürzte einer der Unsrigen von der schwebenden Lyra und brach beide Arme, und an einem anderen Orte hatten der Direktor und ich selbst einen schweren Absturz.
Hier war das Seil, auf dem wir unsere Künste zeigten, mit einem Ende an der Zinne des Rathauses befestigt und hatte eine Steigung von drei Meter.
Mit einem Gefühl der Unruhe war ich diesmal auf das Seil gestiegen.
Mir ahnte nichts Gutes.
Doch zunächst ging alles gut von statten.
Glücklich gelangte ich bis zur Zinne des Daches, und glücklich von da wieder zurück bis zur Mitte, wo ich mich niedersetzte.
Nun kam der Augenblick, wo der Direktor über mich hinwegsteigen sollte, um gleichfalls zum Dache emporzuklimmen.
Da, wie er gerade den Fuß emporhob, um diese Übung zu vollführen, löste sich das Seil von seiner Befestigung am Boden.
Mit jäher Wucht sanften wir in die Tiefe.
Ich selbst kam mit dem blinden Schreck davon denn glücklicherweise hatte ich das Seil in den Händen behalten, so daß ich an ihm herunterrutschte und nur einige Hautabschürfungen davontrug.
Aber anders erging es dem Direktor.
Wohl fiel er auf mich rauf, doch schlug er mit dem Kopf so unglücklich auf dem Erdboden auf, daß er infolge einer heftigen Gehirnerschütterung wie tot liegen blieb.
Aber sein Fall war dadurch, daß er an mich fiel, so weit gemildert worden, daß er mit dem Leben davon kam und nach einem längeren Krankenlager wieder vollkommen gesundete.
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Nach diesem Unfall hatte ich immer allein auf dem Seile aufzutreten.
Mit Eifer arbeitete ich daran, meiner Aufgabe gerecht zu werden und den Direktor zu ersetzen.
Unermüdlich war ich bestrebt, mein Können zu verbessern und zu vermehren.
Immer neue Übungen wurden ausgedacht und erprobt, und schließlich beschränkte ich mich auch nicht mehr aus das Seil, sondern bildete mich auch am Trapez aus, und später übte ich mich in Kraftdarbietungen und Zauberkunststücken verschiedener Art.
So konnte ich, als wir uns bei Anbruch der schlechten Jahreszeit nach Colmar begaben, um dort den Winter zu verbringen, auf eine Zeit erfolgreicher Tätigkeit zurückblicken.
Oft musste ich an das Jahr zuvor zurückdenken.
Welch ein Gegensatz dazu!
Wie ganz anders hatten sich die Dinge diesmal gestaltet!
Nein, diesmal war ich nicht gescheitert, ich war ein wirklicher Künstler geworden, ein Künstler, der Bedeutendes leistete, vor dem verheißungsvoll die Zukunft lag.
Froher Stolz schwellte drob meine Brust.
Zum Sommer blieb ich nicht bei dem Zirkus Dominikus-Stey, sondern schloß mich einer anderen Truppe an, in dem Gefühl, daß ich Neues und Fremdes kennen lernen müsste, wenn ich mich weiter vervollkommnen wollte.
Mit meiner neuen Truppe kam ich einst nach Mülhausen.
Unter den Zuschauern hatten sich auch meine Eltern eingefunden.
Sie hatten von meinen Leistungen viel gehört und waren nun gekommen, um sich mit eigenen Augen zu überzeugen, ob das alles stimmte, was erzählt wurde.
Meine Vorführungen machten auf sie einen überwältigenden Eindruck.
Sowohl meine Mutter wie mein Vater sahen ein, dass sie sich zu Unrecht gegen meine Pläne gesträubt hatten.
Ja, meine Mutter wurde so bewegt, dass sie sich der Tränen nicht erwehren konnte.
Es kam nun eine völlige und restlose Aussöhnung zwischen uns zustande, und dies war gewiss der schönste Sieg meiner Kunst.
In meiner Künstlerlausbahn stieg ich von Erfolg zu Erfolg.
Überall, wo ich austrat, wurde mir zugejubelt, und von den Direktoren war ich gesucht.
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So kam es, daß mir die Grenzen des Vaterlandes allgemach zu eng wurden, und im Jahre 1909 schweifte ich zum ersten Male darüber hinaus.
Ich unternahm eine Vorstellungsreise nach Schweden, die sich auf acht Wochen erstreckte.
Danach machte ich, einmal auf den Geschmack gekommen, öfter Streifzüge nach fremden Ländern.
So war ich viel und oft in Österreich, öfter aber noch in der Schweiz.
Im Sommer 1910 weilte ich lange Zeit in Albligen in der Schweiz.
Hier lebte ich lediglich als Kurgast, und nur zuweilen gab ich als Künstler Vorstellungen.
Diese waren aber außerordentlich gut besucht, besonders, nachdem ich für tatkräftige Hilfe gelegentlich eines Brandes öffentlich belobigt worden war.
Meine wirtschaftliche Lage hatte sich vorzüglich gestaltet.
Ich war imstande, meine Mutter und Schwester auf meine Kosten zu einem längeren Aufenthalt wach Albligen kommen zu lassen.
Das war eine herrliche Freude für uns alle, wie wir sie uns nie zuvor erträumt hätten.
Schöne Tage verlebten wir zusammen, und besonders meine Mutter war über die Maßen beglückt über diese Wendung der Dinge.
Bei meinen Vorstellungsreisen schloß ich mich schon nicht mehr immer seinem Zirkus an.
Oft tat ich mich nur mit einem anderen Künstler zusammen, und zuweilen machte ich mich auch ganz allein auf den Weg.
Mein Können war außerordentlich vielseitig und vielgestaltig.
Nicht nur, daß ich auf dem Seile meinesgleichen suchen konnte, ich hatte mich auch als Kraftmensch und Zauberkünstler derart vervollkommnet, daß ich ganz allein imstande war, Zuschauer für Stunden zu unterhalten.
Dabei blieb ich von ernsten Unfällen und Abstürzen, von denen ein Künstler meiner Art zu leicht betroffen werden kann, verschont.
Wohl war ich einige Male in größte Gefahr geraten, doch war es mir noch immer im letzten Augenblick gelungen, mich vor ernstem Schaden zu bewahren.
Ein Erlebnis aufregendster Art hatte ich einmal, als ich mit August Weinheimer zusammenreiste.
Ich pflegte zusammen mit dem kleinen Sohne des Herrn Weinheimer,
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den ich auf dem Seile ausbildete, Vorstellungen zu geben.
Es waren Übungen, die bei den Zuschauern außerordentlichen Anklang fanden.
Bei einer derselben nun verlor mein kleiner Partner das Gleichgewicht und stürzte ab.
Blitzschnell beugte ich mich nach ihm, um ihn zu haschen.
Ich erfaßte ihn beim Haar, Verlor aber nun selbst das Gleichgewicht und stürzte ebenfalls.
Das war ein herzzerreißender Vorfall.
Erschütternde Schreie und Angstrufe drangen aus der Zuschauermenge an mein Ohr.
Aber das Ärgste wurde doch verhütet.
Durch eine energische Bewegung im letzten Augenblick stürzte ich so, daß ich mit dem einen Knie am Seile hängen blieb.
Im nächsten Augenblick war ich auch schon wieder mit dem Knaben auf dem Seil und setzte die Übungen fort, als wäre nichts geschehen.
Das löste bei den Zuschauern einen jauchzenden, begeisterten Beifall aus, wie ich ihn kaum wieder erlebt habe.
Ein anderer, fast nicht minder ausregender Vorfall spielte sich in Zofingen ab.
Einer von meinen Kollegen, Leonardi Renner, pflegte an einem 16 Meter hohen Mastbaum zu turnen.
Infolge eines Schadens aber mußte dieser durch einen neuen ersetzt werden.
Bei Besichtigung desselben schien es mir, daß er nicht sehr widerstandsfähig war.
Ich warnte, doch schlug man meine Warnungen in den Wind.
Nichts Gutes ahnend, stellte ich mich während der Vorstellung in der Nähe auf, um zuspringen zu können, falls etwas vorfallen sollte.
Und richtig, mitten während der Vorführungen des Künstlers brach der Mastbaum, und der Künstler sauste herab.
Doch konnte ich ihn so aussangen, daß sein Sturz gemildert wurde und er keinen ernsten Schaden nahm.
Überhaupt war die Truppe an diesem Tage von Unheil verfolgt; denn am gleichen Abend stürzte auch die Tochter des Direktors.
Aber auch sie konnte ich durch Aussangen mit den Armen vor ernstem Unheil bewahren.
1910 vollendete ich mein 20. Lebensjahr, und es kam dann auch der Tag, daß ich, wie viele Tausende anderer deutscher Jünglinge, zum Militär mußte.
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Ich war ursprünglich zu den Luftschiffern ausgehoben worden.
Bei der Generalmusterung hatte man mich aber wegen der Rückgrats Verletzung, die ich mir seinerzeit als Knabe durch Sturz vom Baume zugezogen hatte, zurückstellen wollen.
Auf meine Bitten nahm man mich dann doch und überwies mich den Fünfundneunzigern in Gotha.
Die Dienstzeit brachte natürlich eine Unterbrechung meiner Künstlerlaufbahn mit sich.
Trotzdem wurde ich, wie wohl jeder deutsche Jüngling, gern Soldat, und noch heute denke ich gern an meine Militärzeit zurück, der ich so manche schöne Erinnerung verdanke.
Man wird mir wohl glauben, daß mir das Soldatenleben bei meiner guten körperlichen Durchbildung nicht schwer gefallen ist.
Ich wußte mich gleich am ersten Tage gut einzuführen, indem ich in der Kantine dieses und jenes Kunststück zum besten gab.
Das gab dann ein Hallo, ein Donnerwetter.
Dann schloß sich ein lustiges Gläserklingen an, bei dem ein jeder mir Freundschaft anbot.
Natürlich mußte ich von nun an öfters meine Künste zeigen, und ich durfte bei keiner Ausführung wie sie bei dieser oder jener Feier veranstaltet werden, fehlen.
Manche dieser Ausführungen warfen auch einen kleinen Gewinn für mich ab, so daß ich meine Eltern nicht in Anspruch zu nehmen brauchte.
Im zweiten Jahre wurde es dann noch besser für mich, da ich nun die Erlaubnis erhielt, Sonntags in aller Öffentlichkeit aufzutreten.
In diesem Jahre wirkte ich auch bei den Ausführungen anlässlich der Geburtstagsfeier des Herzogs mit, die im Parkpavillon zu Gotha stattfand.
Die Feier gestaltete sich glänzend, es herrschte eitel Freude und Lustigkeit.
Leider sollte sie für mich nicht glücklich enden.
Nach der Vorstellung hatte ich mich schrankenlos der allgemeinen Fröhlichkeit hingegeben, die bis zum frühen Morgen kein Ende nehmen wollte.
Da wurde von einem Kameraden scherzhast die Frage aufgeworfen, ob ich mir auch in diesem Zustande zutraute, auf dem Seile Rad zu fahren.
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Durch diesen Zweifel gereizt, machte ich mich anheischig sogar mit verbundenen Augen vorwärts und rückwärts zu fahren.
Es kam zur Wette.
Es kam zum Austrag derselben Dabei ging alles, wie es sein musste.
Schon gedachte ich abzusteigen, da riß im letzten Augenblick die Kette des Rades, und ich stürzte mitsamt dem Rade in die Tiefe.
Ich trug schwere Verletzungen davon, so daß ich wochenlang im Lazarett liegen musste.
Infolge guter Pflege erholte ich mich aber wieder vollkommen.
Nicht lange danach — der Spätherbst war herangekommen — wurde ich aus dem Militärdienst entlassen, und es hieß nun wieder dem bürgerlichen Beruf nachgehen.
Ich säumte denn auch nicht lange.
Schon acht Tage später trat ich eine Vorstellungsreise an, und zwar bereiste ich mit einem Freunde Thüringen.
Den Winter verbrachte ich in Gotha.
Im nächsten Jahre trat ich verschiedentlich in Süddeutschland und Österreich auf.
Einmal hatte ich einen Absturz von der fliegenden Lyra, bei dem ich mir beide Füße verstauchte.
Aber nach 14 Tagen erschien ich schon wieder auf dem Seile, zu einer Zeit, wo ich mich auf der Erde nur erst mit Hilfe von Krücken fortbewegen konnte.
Im Kriegsjahre lenkte ich meine Schritte nach Norddeutschland.
Ich gab Vorstellungen in Hannover, Oldenburg, Hamburg und anderen Städten.
Ueberall hatte ich vollen Erfolg, und von allen Seiten kamen Angebote.
Da reifte in mir ein schon lange erwogener Plan, auch einmal in die weiteste Ferne zu gehen.
Je weiter, desto besser, so schien es mir.
Während ich darüber nachdachte, wohin ich meine Schritte lenken sollte, bekam ich ein Angebot für Argentinien.
Das nahm mich sofort gefangen. Argentinien!
Ach ja, ... das war ganz nach meinem Sinn.
Da mochte ich mich nicht lange bedenken.
Sofort reiste ich nach Amsterdam, um den Vertrag abzuschließen.
Es dauerte denn auch nicht lange, so war alles fertig und abgemacht, und ich trat die Rückreise nach Hamburg an, um mich zur Überfahrt nach Argentinien bereitzumachen.
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Es war am 31. Juli, als mich der Zug nach Hamburg führte, an jenem denkwürdigen Tage, der Millionen und Abermillionen von Menschen unauslöschlich in Erinnerung bleiben wird.
Während der Zug dahinfuhr, waren meine Gedanken und all mein Sinnen noch ganz der bevorstehenden großen Auslandsreise zugewandt.
Wie jäh wurde ich aber aus diesem Sinnen aufgerüttelt, als wir über die Grenze nach Deutschland kamen!
Da drangen Gerüchte zu uns, daß der Krieg unmittelbar bevorstehe, und je näher wir uns dem Ziele unserer Reise näherten, desto mehr nahmen diese Gerüchte an Bestimmtheit zu.
Diese Kunde traf mich in der Tat wie der Blitz aus heiterm Himmel.
Angelegentlichst beschäftigt mit meinen Reiseplänen, hatte ich wenig auf das Kriegsgeschrei der letzten Tage geachtet.
War ja doch so oft das Kriegsgespenst an die Wand gemalt worden, ohne das etwas Ernstes daraus geworden war.
Weshalb sollte es diesmal anders sein?
Nun aber schien die Sache doch ein anderes Aussehen anzunehmen, und mit Schrecken vergegenwärtigte ich mir, wenn die Gerüchte da Recht behielten, ja, dann wurde aus der Amerikafahrt nichts, dann fielen alle meine Pläne wie ein Kartenhaus in ein Nichts zusammen. Statt nach Amerika zu fahren, hieß es, den bunten Rock anziehen
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und das Gewehr ergreifen zur Verteidigung des Vaterlandes.
Nun, was mich betraf, so war ich bereit.
Gegen Abend lief der Zug in Hamburg ein.
Von brennender Neugierde und quälender Ungewissheit zermartert, stiegen wir aus, als uns sogleich der Ruf entgegenschallte: »Allgemeine Mobilmachung befohlen, der Krieg ist da!«
Da überfiel einen jeden für einen Augenblick eine Art von Erstarrung.
Unwillkürlich blickte ein jeder auf den anderen, um in des anderen Gesicht zu lesen, was er dachte.
Und doch hatte schließlich jeder die gleichen Gedanken. „Krieg!“
- Also war es doch soweit gekommen, also waren die Feinde doch so gewissenlos und verblendet gewesen, den Weltkrieg zu entfesseln. Krieg!
— Ach, wie oft hatte man das Wort sprechen gehört!
Wie oft hatte man es selbst ausgesprochen, ohne dabei etwas zu denken!
Aber wie anders klang es doch diesmal! —Krieg!—
Das drang durch Mark und Bein, und manche Mutter, manche Braut überlief bei diesem Klang ein kalter Schauer, ein furchtbares Zittern — Krieg! —
Das war nicht mehr etwas, das nur für die Japaner, die Türken, Bulgaren oder eine Völkerschaft weit, weit weg im fernen Afrika oder Asien Bedeutung hatte.
Nein, das war etwas, das nun das eigene Ich, das eigene Volk betraf, und zwar so grausam, so rücksichtslos und so furchtbar, wie es noch kein Volk der Welt erlebt hatte. — Krieg! —
Ja, was war denn das, Krieg?
Man hatte ihn so lange nicht gehabt.
Man hatte keine klare Vorstellung mehr davon, was das war, Krieg.
Aber man ahnte, daß es etwas unglaublich Grausiges war.
Man ahnte, daß es einen kalten, rauhen Eingriff in das Leben des einzelnen wie des ganzen Volkes bedeutete.
Man fühlte, daß es zerstampfte Saaten und Fluren, rauchende, lodernde Dörfer und Städte, blutende, zuckende, ächzende Menschenleiber, Entbehrungen und Leiden und grausige Not bringen würde.
Krieg! — Und dann hatte man sich an den Gedanken gewöhnt und dann kam der Taumel, dann kam die Begeisterung, Krieg!
Ja, das war ja die Verachtung des Lebens, das war die
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Verachtung von so vielem, das uns so lange unentbehrlich schien.
Und wie schön, verachten zu dürfen und als wertlos anzusehen, woran man im Alltag so kleinlich sich klammert!
Ja, sie mochten kommen, die habsüchtigen, ländergierigen, neidischen Feinde, die uns so oft schon beleidigt und angebellter hatten, die es uns an Tüchtigkeit nicht gleichtun konnten, die uns aber rauben wollten, was wir durch emsigen Fleiß und harte Arbeit erbaut und geschaffen hatten.
Sie mochten wohl denken, leichtes Spiel zu haben. Doch sie sollten sich irren, sie sollten wohl erfahren, was es heißt, die Deutschen zum Kampfe freventlich herauszufordern.
Denn man ahnte, man verfügte über riesige Kräfte. Und dann kam es heraus, aufjubelnd, „Deutschland, Deutschland über alles“, und werbend klang es auf anderen Stellen „Es braust ein Ruf wie Donnerhall“, »zum Rhein, zum Rhein«, und dann schlug die Begeisterung bald helle, lichte Flammen und loderte immer höher, immer gewaltiger empor.
In den Straßen drängte und schob sich eine ungeheure Menschenmenge hin und her. Es gab kein Durchkommen mehr, wenn man in sie hineingeriet.
Man mußte mit dem allgemeinen Strom mit, ob man wollte oder nicht, und alles war in der größten Erregung.
Man rief,« man schrie, man winkte sich zu, ganz gleich, ob Freund oder Fremder.
Es gab keinen Fremden mehr, es war eben alles Freund, es war alles Kamerad.
Redner sprangen auf die Wagen, sprachen begeistert zur Menge, wiesen darauf hin, daß uns die anderen schon so lange mit ihrem Neid und Haß verfolgten, daß es ein großer Krieg werden würde und daß wir uns nun wehren müßten, wehren bis aus den letzten Blutstropfen.
Mit begeistertem Hurra, mit »Heil dir im Siegerkranz« wurde es gelobt.
Die Musik trat aus den Cafés aus die Straßen und spielte vaterländische Lieder, und begeistert fiel die Menge mit Gesang ein.
So brauste der Ruf hier, so fand er hier Antwort.
Aber er scholl nicht nur hier, nein, durch das ganze weite Vaterland wurde er weitergegeben.
Er drang in das kleinste Dorf,
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in die kleinste Hütte, und überall fand er freudige, willige Antwort, in den Stätten der Reichen wie der Armen, der Glücklichen und selbst der Unglücklichen.
Während ich mich von dem Strome durch die Straßen mitführen ließ, legte sich plötzlich von hinten eine Hand auf meine Schulter, und gleichzeitig rief jemand: „Ei, sieh da!
Guten Tag, Camilio, Sie hier Wie ist das möglich?“
Ich sah mich um.
Es war ein Bekannter, ein amerikanischer Berufsgenosse.
»Was sagen Sie zum Kriege?«, fuhr er fort.
Ich zuckte mit den Achseln. »Was gibt es da zu sagen? Eine ernste Zeit ist herangebrochen, unsere Feinde mögen sich’s leicht denken, aber sie sollen sich wundern Sie kennen Deutschlands Kraft!«
Wir hatten uns in einem Café niedergelassen, um eine Erfrischung zu nehmen.
„Wie ist es denn nun mit Ihrer Amerikareise? begann er plötzlich.
„Wie Sie sehen“, sagte ich, „kann nun daraus nichts werden“
Da beugte er sich zu mir herüber und rannte mir ins Ohr: „Seien Sie doch, um Himmels willen kein Tor, Camilio.
Es ist für Sie ein Leichtes, nach Amerika zu entkommen.
Verlassen Sie sich darauf, die nötigen Papiere besorge ich Ihnen, und bedenken Sie nun, daß Sie ein großer Künstler sind, daß Sie in Amerika Riesengewinne haben werden und dort drüben in Saus und Braus werden leben können, während hier die Strapazen des Krieges, Entbehrungen und Not und vielleicht der Tod auf Sie lauert.“
Er hatte sich in Feuer und Eifer hineingeredet, und von seinem Standpunkt aus mochte er auch nicht Unrecht haben; aber ich konnte ihm doch nur kopfschüttelnd erwidern: „Das Bild, das Sie da entwerfen, ist ja allerdings glänzend, aber seine Kehrseite ist doch elendig und schmachvoll.
Ein Ehrloser würde ich mein ganzes Leben lang sein, wenn ich mein Vaterland jetzt im Stiche ließe.
Nie dürfte ich zurückkehren, nie meine Heimat und Eltern schauen.
Was aber bedeutet der Tod für mich? Sehe ich ihm nicht täglich in meinem Berufe ins Angesicht?
Warum sollte ich vor ihm jetzt erschauern! Falle ich, so sterbe ich den ehrlichen Soldatentod,
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und falle ich nicht, so darf ich überall mein Haupt erbeben und überall in meinem Vaterlande leben.«
Da schüttelte er den Kopf und konnte mich nicht begreifen, und er wollte von neuem noch weiter auf mich einreden.
Aber es kamen andere Bekannte hinzu, das Gespräch musste abgebrochen werden, musste auf andere Dinge gelenkt werden, und dann traten wir auch bald wieder auf die Straße, wo wir im Gedränge auseinanderkamen.
Das Leben und der Trubel in den Straßen hatten eher zu als abgenommen.
Je nach Gemüt und Alter nahm ein jeder an der gewaltigen Bewegung Anteil.
Die einen trugen einen feierlichen Ernst zur Schau, andere lärmten, sangen und schrien, und noch andere wollten noch einmal das Leben auskosten.
Lustige, lockende und schmeichelnde Tanzmusik und das taktmäßige Schurren von Tanzenden drang hier und dort aus einem Hause.
Heute galt es Abschied zu nehmen von der Liebsten, denn morgen war man schon weit.
Drum noch einmal die Seligkeit des Sichhabens gekostet, noch einmal die Arme um die Süße geschlungen, noch einmal Lippe auf Lippe gepresst, und dann mochte die Kugel einen treffen, dann mochte die Welt in Trümmer geben.
Der Krieg war so gewaltig, so groß.
Wer konnte wohl glauben, mit dem Leben davonzukommen.
Heute wollte man es darum noch einmal wahrnehmen, und morgen mochte kommen, was da wollte.
So dauerte das Treiben fort bis zum frühen Morgen.
Während meines Umberschlenderns war ich mir klar darüber geworden, was ich nun selbst zu tun hätte. Soviel wart gewiß: Meines Bleibens konnte in Hamburg nicht sein, ich musste so schnell wie möglich nach Hause, Abschied nehmen und mich zum Dienst stellen.
Nach diesen Gesichtspunkten hatte ich zu handeln.
Der Morgen brach an, als ich im Zuge saß.
Der Lärm der Stadt drang deutlich zu uns.
Da, es war kurz vor Abgang des Zuges, kam eine Anzahl junger Burschen, die gleichfalls mit einem der nächsten Züge Hamburg verlassen wollten, mit Gesang anmarschiert.
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Und während sich unser Zug in Bewegung setzte, klang es uns von ihnen nach, stolz und siegesgewiss:
»Frankreich, ja Frankreich, wie wird es dir ergehen,
Wenn du die deutschen Soldaten wirst sehen
Deutsche Soldaten schießen alle gut, ja gut.
Weh dir, o weh dir, Franzosenblut.«
Diese Klänge drangen uns, die wir im Zuge saßen, bis ins innerste Herz und erfüllten uns mit stolzer Zuversicht.
Nach einiger Zeit liegt die gewaltige Stadt mit ihrem Lärm hinter uns.
Der Zug rast auf freiem Gelände dahin.
Stille umgibt uns nun denn die Natur liegt noch im Schlummer.
Und nur vereinzelt, erst hier und da, regt sich neues Leben.
Herrlich geht die Sonne auf, die Rinderherden aus den Wiesen strecken und recken sich.
Sie strecken und recken den Kopf der Sonne entgegen, als sehnten sie sich nach ihren wärmenden Strahlen.
So schien noch alles Erstarrung, Schlaf und Traum zu sein.
Welch ein Gegensatz doch zu dem Treiben in der großen Stadt, die hinter uns lag.
War der Kriegsruf noch nicht hierher gedrungen? Wußte man hier noch nichts von den gewaltigen Geschehnissen? Wie seltsam!
An den Grenzen mochte schon das Hurra, das Knattern der Gewehre ertönen, mochte sich das bange Stöhnen Getroffener vernehmen lassen.
Hier aber war noch: alles in tiefster, seligster Ruhe, im sanftesten Schlaf.
Doch, wie lange noch, da würde der Kriegsruf auch hier erschallen und würde auch hier Schrecken und Erregung bringen, Schmerz und Begeisterung, wie überall.
Nach einigen Stunden bin ich in Gotha.
Auch hier gehen die Wogen der Begeisterung hoch, und die Straßen sind übervoll.
Viel Aufregung gibt es der Spione wegen. Hier und da hat man schon einen gefaßt, und ich bin selbst Zeuge, wie ein Automobil angehalten wird, in dem feindliche, als Damen verkleidete Offiziere sitzen.
Nur einige Stunden weile ich hier, um von der Liebsten Abschied zu nehmen.
Dann geht‘s weiter nach Mülhausen i.E.
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Dort dasselbe Bild wie in Gotha und Hamburg.
Eine gewaltige Menschenmenge ist auf dem Bahnhof.
Menschen, die sehen und hören wollen von dem gewaltigen Ereignis, das über sie gekommen ist und das sie noch nicht begreifen können.
Unter ihnen erblicke ich meinen Vater. Er sieht mich nicht eher, als bis ich dicht vor ihm stehe.
Da blickt er freudig erschrocken auf:
»Du hier, Camilio?«
»Wie du siehst, Vater!«
»O wie schön, daß du da bist! Ich dachte, du stecktest schon irgendwo im bunten Rock.«
»Noch nicht, Vater, aber lange dauert es nicht«
»Nun wohl, wie wird sich die Mutter freuen!«
Unbeschreiblich war natürlich die Freude der Mutter, als ich unerwartet mit meinem Vater eintrat und sie mich noch einmal in den Armen halten konnte.
Aber um so größer war der Schmerz, als ich wieder von dannen zog, und wie sehr sie sich auch bemühte, ihn zu verbergen, so gelang es ihr doch nicht recht.
Nach einigem Hin und Her war ich als Krankenpfleger dem Landwehr-Infanterie-Regiment 110 in Freiburg im Breisgau zugeteilt.
Unvergesslich schön waren die damaligen Tage in der Garnison.
»Soldatenleben, ei, das heißt lustig sein«, heißt es in einem Soldatenliede.
Jeder, der Soldat gewesen ist, weiß wie zutreffend dieses Wort ist, und wie auch nach den schwersten Stunden Frohsinn und Frohmut immer wieder zum Durchbruch kommen.
Niemals aber mag dies Wort zutreffender gewesen sein, als für das Soldatenleben in jenen Tagen nach der Mobilmachung in der Garnison.
Alle waren voller Begeisterung und voller Begierde, an den Feind zu kommen.
So herrschte ein fröhliches, lustiges Treiben in der Kaserne.
Des Abends waren die Kantinen überfällt.
Aus Kaserne und Kantine drangen frohe und schwermütige Lieder, singend von des Soldaten Lust und Leid,
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in die Stille des Abends, das Herz durch ihre schlichte Innigkeit bis ins Innerste ergreifend.
Ich selbst trug mancherlei dazu bei, durch Vorführungen die Freude und Fröhlichkeit noch zu vermehren.
So schwanden die Tage wie im Fluge dahin, und endlich kam der ersehnte Augenblick des Abmarsches.
Mit klingendem Spiele ging es zum Bahnhof. Jung und alt beiderlei Geschlechts begleitete uns.
Brot und Wein und andere Liebesgaben wurden uns gereicht.
Junge Mädchen drängten sich heran, um etwas von unserem Gepäck zu tragen, und aus den Fenstern regnete es Blumen herab.
So kamen wir auf den Bahnhof, und endlich waren wir im Zuge.
Ein letztes Lebewohl, von tausend Soldatenlippen gerufen und gesungen, und der Zug setzt sich in Bewegung.
Der Bahnhof mit der ungeheuren Menschenmenge, die uns noch nachwinkt, die letzten Häuser entschwinden allmählich unseren Blicken.
Wir sind für uns. Und da ist es, als ob sich eine Wand zwischen uns und die Heimat schiebt.
Zwar sind wir noch auf heimatlichem Boden, aber es ist, als gehörten wir der Heimat nicht mehr an, sondern dem Felde, und ein jeder denkt daran, daß er in wenigen Stunden vielleicht vor dem Feinde schon steht.
Mancherlei Gedanken bewegen da einem jeden das Herz, zumeist Gedanken, wie sie der Dichter so treffend in folgendem Gedichte ausspricht:
Nun ziehen wir zum Kampf hinaus
Ins grimme Feindesland,
Zu schirmen unser Hof und Haus
Und unser Vaterland.
Wir streiten nicht um Gut und Geld,
Für Knechtschaft, Sünd’ und Schand’,
Für Freiheit ziehen wir ins Feld,
Für’s heil’ge Vaterland.
Für Weib und Kind zu Trutz und Wehr,
Reicht, Brüder, mir die Hand,
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Für Recht und Wahrheit, Ruhm und Ehr,
Für‘s heil’ge Vaterland.
Und wenn die ganze Welt uns droht,
Wir blicken unverwandt
Und unverzagt ins Morgenrot
Und auf das Vaterland
Die Feuersäulen halten Wacht,
Entfacht vom heil‘gen Brand,
Obgleich die Feste bebt und kracht
Um unser Vaterland.
So reichet denn, Ihr Lieben mein,
Zum Abschied mir die Hand,
Und sollte es geschieden sein,
Euch bleibt das Vaterland.
Und zieh’n wir einst als Sieger ein
Nach manchem schwerem Stand,
So soll die Liebe König sein,
Und frei das Vaterland.«
H. Buchholz
Die Fahrt ging dem Westen zu.
Sie konnte also nicht lange dauern.
Schon nach wenigen Stunden hielt der Zug, und wir stiegen aus.
Den Rest der Nacht verbrachten wir im Freien.
Am nächsten Tage ging es weiter über den Rhein.
Dann gab es noch zwei bis drei Tage Rast, und dann kamen die Entbehrungen und Strapazen.
Dann kamen anstrengende Hin- und Hermärsche in sengender Sonnenglut, entsetzliche, taumelnde Müdigkeit, wahnsinniger Hunger und Durst und schreckliche Schmerzen; doch der feste, entschlossene, heilige Wille überwand alles.
In solchen Stunden war es mir ein Gefühl größter Genugtuung, daß ich nicht selten durchs meine Kunst aufmunternd Und belebend und vergessen machend wirken konnte.
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ei, da färbt sich’s rosenrot.«
Am Morgen des 18. August kam der Befehl: „Sturmgepäck fertig machen, wir kommen an den Feind“.
In Eilmärschen marschierten wir auf Halsheim zu.
Abends langten wir dort an.
Am Morgen des folgenden Tages brachen wir in der Richtung Mülhausen auf.
Mitten in der Stadt wurde Halt gemacht, wir wurden von den Bewohnern liebevoll und begeistert empfangen.
Die Leute drängten sich zu uns und reichten uns allerlei Erfrischungen.
Ach, für so manchen von uns war es die letzte! Unter den Herbeieilenden war auch mein Vater und meine Mutter.
So war mir noch ein Glück gegönnt, wie es nicht vielen zuteil wurde.
Der Feind war nicht weit.
Der Kampf war bereits im Gange, man hörte deutlich das Donnern der Geschütze, das Knattern der Gewehre, und die Leute erzählten uns, die Franzosen seien bis Dornach vorgedrungen.
Mit einem Male erschollen die Befehle: „Laden und sichern!
Seitengewehr pflanzt auf! Vorwärts gegen den Feind!“
Bei der Fabrik Wallach kamen wir aus der Stadt heraus und damit in Sicht des Feindes.
Er sandte uns bald seinen Gruß, Granaten und Schrapnells, es zischte und heulte durch die Luft.
Hui‘dsching bum! hui’dsching bum!
Einige Schritte weiter, dann umschwirrt es den Körper gleich Käfern.
Im Laube der Bäume raschelt es wie von Schlangen.
Wir Sanitäter bleiben jetzt zurück, die anderen arbeiten sich vor.
Schon sind sie dem heftigsten Feuer ausgesetzt.
Der Bahndamm ist ihr Ziel. Sprungweise rücken sie vor.
Kaltblütig und ruhig stürmen sie vorwärts, man muß sie bewundern.
Nun machen sie einen neuen Sprung.
Aber nicht alle führen ihn zu Ende. Hier und da fällt einer zu Boden.
Dieser bewegt sich noch, er lebt, der andere liegt still und ruhig da, er ist tot.
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Dieser Anblick schneidet mir ins Herz, ich kann es nicht mehr ansehen, ohne zu helfen.
Es gibt für mich kein Halten mehr.
Mitten durch den Kugelregen hindurch dringe ich zu den Kämpfern vor.
Ich laufe von einer Stelle zur anderen und helfe, wo ich kann.
Ich verbinde die Verwundeten, wo es möglich ist.
Und wo es nicht möglich ist, lagere ich sie so, daß sie vor dem Gewehrfeuer geschützt sind.
Manch einen aber trage ich aus der Gefechtslinie zum Verbandsplatz ihn mit den Armen und Zähnen haltend.
So bin ich unermüdlich tätig.
Dabei wird mir einer der Tapferen unter den Händen totgeschossen.
Er hatte einen Streifschuss an der Stirn und bat mich um einen Notverband, damit er weiterschießen könne.
Ich komme seiner Aufforderung nach, aber während des Verbindens wird er von einer zweiten Kugel in den Kopf getroffen.
Tot entsinkt er meinen Händen. Mir hatte die Kugel gegolten, und er hatte daran glauben müssen.
Mehrere Stunden hat das Gefecht nun schon gedauert.
Die Übermacht des Feindes wächst ständig, und die Unsrigen bekommen einen schweren Stand, aber sie verzagen nicht, ja, sie gehen sogar zum Angriff vor.
Doch immer größer wird die Zahl der Feinde, immer neue Verstärkungen kommen heran.
Die Unsrigen kommen in Gefahr, umzingelt zu werden.
Es hilft nichts, sie müssen zurück.
Schon sind sie fort. Von allen Seiten stürmt der Feind heran.
In aller Eile gelingt es mir noch, sechs Verwundete in die nächsten Häuser zu bringen, wo sie von den Einwohnern liebevoll aufgenommen werden.
Dann aber ist es für mich die höchste Zeit; denn die Franzosen sind schon stellenweise in die Stadt eingedrungen.
Durch Seitengäßchen nehme ich meinen Weg.
Aus den Häusern ruft man mir zu: »Ei, Camilio, beeil dich, sonst haben sie dich.«
Ich antwortete:
»Keine Not, ich finde mich schon durch, ich bin hier zu Hause,« und auf verborgenen Seitenwegen gelingt es mir, mich in Sicherheit zu bringen.
Gegen 10 Uhr finde ich meine Kompagnie wieder.
Mit Hurra werde ich empfangen, denn alles glaubt mich tot.
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Ich werde sofort umringt und muß erzählen; dann hebt ein allgemeines Erzählen und Fragen unter den Leuten an.
Manch einer fühlt sich im Herzen glücklich und stolz in dem Gefühl, sich als Mann bewährt zu haben. Denn der eine hatte diese, der andere jene wackere Tat vollbracht, und dann gedenkt man der Toten. »Ich hatt’ einen Kameraden« wird angestimmt.
So innig und feierlich hat es noch nie geklungen.
Unterdessen ist die Nachricht, daß ich wieder da bin, auch zum Hauptmann gelangt.
Sofort muß ich zu ihm kommen und muß erzählen, wie es mir gelungen ist, zu entwischen.
Und wie ich alles erzählt habe, sagt er: „Gehen Sie sofort hin, und lassen Sie sich die Unteroffizierstressen anmachen.
Sie haben sich wacker gezeigt.«
Die Franzosen hatten nach unserem Rückzuge von der Stadt Mülhausen Besitz genommen und waren gleich daran gegangen, sich daselbst fest einzunisten und es sich gemütlich zu machen und alles nach französischer Art und Sitte umzumodeln.
Aber die Herrlichkeit war nicht von langer Dauer.
Die Schlacht bei Saarburg in Lothringen war zu unseren Gunsten entschieden worden, und wir hatten die Genugtuung, zu erfahren, daß unser Gefecht bei Mülhausen, durch das wir die Franzosen die erforderliche Zeit aufgehalten hatten, mit zu diesem Siege beigetragen hatte.
Nach dieser Schlacht war auch kein Bleiben für die Franzosen in Mülhausen.
Sie mußten zurück, wollten sie nicht in arge Bedrängnis kommen, und so zogen sie denn eines schönen Tages wieder ab.
Sie gingen bis hinter Altkirch zurück, woselbst sie sich verschanzten.
Unsere Aufgabe war es nun nicht, sie anzugreifen, und vollends zu vertreiben, sondern nur, ein etwaiges Vordringen zu vereiteln.
Darum setzten wir uns ihnen gegenüber auf dem Lerchenberge fest, indem wir uns gleichfalls wie die Maulwürfe einbuddelten.
So war der Schützengrabenkrieg fertig.
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Doch es ging im allgemeinen ziemlich ruhig zu; denn, was. uns betraf, so hatten wir, wie gesagt, keine Eroberungsabsichten und die Franzosen wiederum hatten an anderen Teilen der Front genug Mühe, sich der Deutschen zu erwehren.
So kam es nur zeitweise des Tages zu gegenseitigen Beschießungen und Störungen.
Unter diesen Umständen war ich so keck, dicht hinter unseren Gräben mein Seil auszubauen und Vorstellungen zu geben.
Das ging eine Zeit sehr schön, aber endlich wurde der Feind aufmerksam, und als wir wieder einmal schön beisammen waren, begann er uns plötzlich mit wahnsinnigem Artilleriefeuer einzudecken, glücklicherweise so, daß niemand zu Schaden kam.
Aber mit den Vorstellungen war es nun natürlich doch vorbei.
Am 1. Januar 1915 kamen wir nach der Gegend vom Hartmannsweilerkopf in den Vogesen.
Hier wehte anderer Wind, die Luft war recht „eisenhaltig“, und unser warteten viele Leiden.
Die Schießerei währte den ganzen Tag, und kam die Nacht, so ging es erst recht los.
Fortwährend blitzten die Leuchtkugeln aus.
Von hüben und drüben gab es Patrouillen-, Angriffs-, Überraschungsunternehmungen.
Schier unaufhörlich heulten die Granaten durch die Lust.
Unaufhörlich trachte es hier und da, hier und da einen hinwegraffend.
Und immer wieder pfiffen und sangen die Flintenkugeln in der Dunkelheit sich feurig wie Leuchtkäfer abhebend.
Und die einen taten müde, als hätten sie eine lange Reise hinter sich, und schienen so langsam durch die Luft zu streichen, daß man in Versuchung geriet, nach ihnen zugreifen, die anderen aber schienen ärgerlich und grimmig zu sein, und schlugen mit zerschmetternder Gewalt ein, daß man wohl unwillkürlich zusammenfuhr, von Wut und Aerger gepackt wurde, wenn sie neben einem niedergingen.
Von Zeit zu Zeit griffen dann dumpf grollend, ernst mahnend, mit ehernem Schlund die schweren Geschütze ein.
Dann gab es an mehreren Stellen einen schweren, dumpfen Klang, dann fuhr es am Himmel entlang, hohl und seltsam heulend und geschäftig hineilend, wie ein D-Zug, und dann folgte nach
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einiger Zeit ein gewaltiger Krach in der Ferne, und man erblickte ein Aufflammen eines gewaltigen Feuers fern am Horizonte.
Mit einem Male schien Ruhe einzutreten.
Nur noch vereinzelt piff, paff, piff, paff, und dann endlich fast vollkommene Stille.
Müde streckt sich der größte Teil der Kämpfer aus den Boden nieder, um wenigstens etwas zu ruhen.
Doch nicht lange.
Wie auf Kommando, beim Ausblitzen einer Leuchtkugel, geht der Höllenlärm von neuem los, oft mit doppelter Gewalt, als wäre alles wahnsinnig geworden.
Da, nebenan geht es heftig her.
Ein Sausen und Zischen in der Luft, als ob alle Elemente entfesselt seien, immer stärker anschwellend, immer tobender sich gestaltend, gleich dem Brausen des Meeres, wenn der Orkan es peitscht.
Aufmerksam lauschen alle dem An- und Ab-schwellen.
Es sind bange Minuten voll größter Spannung.
Werden sie durchkommen fragt man sich gegenseitig, und fester wird das Gewehr gefaßt.
Aber nein! Schon beginnt das Wüten wieder abzusterben.
Bald ist alles wie vorher, bis nach einer Stunde vielleicht der Lärm von neuem beginnt.
Nach einer Zeit gilt’s uns unmittelbar.
Beim Aufblitzen der Leuchtkugel erblickt das Auge Schützen vor dem Graben.
Alarm wild gegeben: »Alle Mann an die Gewehre!«
Das Kommando ertönt: »Schützenfeuer!«, dann »Schnellfeuer!« und beim abermaligen Aufblitzen einer Leuchtkugel ist vorn alles verschwunden, die beabsichtigte Überrumpelung ist misslungen.
Der Tag bricht an, nachdem die Nacht fast ohne Schlaf vergangen ist, und der Tag bringt neue Arbeit.
Schier übermenschlich sind die Strapazen, und immer neue kommen hinzu.
Schlechtes Wetter tritt ein. Das Wasser dringt in die Schützengräben, in die Unterstände.
Alle Versuche, es herauszubekommen, sind vergebens.
Die Truppe muß so ausharren.
Häufig stehst sie bis an den Knien im Wasser. Dazu hapert es mit der Verpflegung außerordentlich.
Das geht über die Kräfte von so manch einem.
So manch einen, den die Kugel verschont, verlässt die Kraft des Körpers und des Herzens, und an beiden siech, muß er ins Lazarett geliefert werden.
Vielleicht, daß er bei guter Pflege noch wieder gesundet.
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Wie oft aber ist alles vergebens!
Nach Kräften suchte ich die Leiden der Truppe zu mildern.
Mein Standquartier war dicht hinter den Gräben, wo ich mit der Pflege der Verwundeten und Kranken betraut war.
Ich kochte Kaffee und Tee und eilte damit des Abends und des Morgens nach oben zu den lechzenden Kameraden.
Es war kein leichter Gang dorthin, und es ging durch Infanterie- und Maschinengewehrfeuer, und oft keuchte ich durchs Schneegestöber und Geriesel dahin. Dann aber wurde ich gerade doppelt sehnsüchtig erwartet, und ein Freudengebrüll empfing mich, wenn ich trotz allem ankam.
Nicht immer erging es mir glücklich bei meinen Verforgungsgängen.
So durchbohrten mir einmal, als ich in heftiges Maschinengewehrfeuer geriet, zwei Kugeln den Kaffee-Eimer.
Geschehen war‘s nun um die kostbare Flüssigkeit.
Kaum ein Tropfen blieb im Eimer drin, doch ich; selbst war heil geblieben So war der Schaden noch immer gutzumachen.
Ich eilte sofort zurück, braute neuen Kaffee, und dann erhielten meine Kameraden auch an jenem Tage ihre Erfrischung.
Die Verspätung wurde gern verziehen als man hörte, welches die Ursache war.
Auch für die Ernährung sorgte ich nach Kräften.
Mit der Zeit wurde dies zwar immer schwieriger, aber es gelang mir noch immer hier und dort etwas auszutreiben.
Dabei gab es zuweilen recht neckische Erlebnisse.
Unvergessen wird mir das eine stets bleiben: Ich hatte mich eines Tages Vergebens bemüht, Lebensmittel zu beschaffen.
Da kam ich durch S., das bis aus die letzte Mauer abgebrannt war.
Plötzlich hörte ich das unermüdliche Gackern einer Henne, zu dem sich ein liebliches Grunzen zugesellte.
Ei, dachte ich das wär solch ein Fang.
Ich ging diesen angenehmen Tönen nach, und bald war die freundliche Eierspenderin entdeckt mit vier Erzeugnissen ihrer Tätigkeit.
Liebevoll nahm ich beides an mich.
Auch die Ursache des Grunzens fand ich.
Es war dies ein junges Schwein, das gleichfalls zärtlichst umschlungen und der Einsamkeit enthoben wurde.
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Das gab ein Hurra, als ich mit dieser Beute bei der Kompagnie ankam.
Nun spielte ich den Schlachten.
In Ermangelung von heißem Wasser wurde das Schwein abgezogen wie ein Kaninchen, und es waren keine zwei Stunden vergangen, bis Schwein, Huhn und Eier verschwunden waren.
Das einzig Sichtbare nach dem Schmaus war das zufriedene Schmunzeln auf den Gesichtern meiner braven Kameraden.
Wir wechselten sehr häufig unsere Stellungen und waren bald in diesem, bald in jenem Schützengraben.
Aber die Gefechte verliefen meist glücklich für uns.
So erstürmten wir den Hirzelstein ohne jegliche Verluste und machten noch 250 Gefangene.
Auch wurden öfter Patrouillen unternommen, an denen ich mich bisweilen als Sanitäter beteiligte.
Mit der Zeit gingen auch mir die Strapazen über die Kräfte, so daß ich eines Tages heftig an Lungenblähung erkrankte.
Aber bei meiner kräftigen Natur war ich nach 14 Tagen schon wieder hergestellt, so daß ich wieder Dienst machen konnte.
Inzwischen war jedoch unser Regiment auf die alte Stelle bei Mulhausen gekommen, damit es sich von den Strapazen erholte.
Hier blieben wir bängere Zeit.
Ich selbst hatte es aber auch hier nicht leicht.
Infolge Überanstrengung erkrankte ich abermals an einer Erkältung, so daß ich abermals ins Lazarett mußte.
Nach Genesung kam ich nicht wieder zur alten Front zurück, denn das Regiment war zurückgezogen, damit es neu geordnet und neu zusammengestellt wurde.
Es war nämlich der Befehl ergangen, daß die Elsässer an der Ostfront verwandt werden sollten.
Und so wurden auch aus unserm Regiment die Elsässer herausgezogen, damit sie dorthin geschickt würden.
Hiervon waren wir wenig erbaut, einmal, weil wir an und für sich gern im Westen weitergekämpft hätten, da wir so nahe der Heimat waren und somit unmittelbar für unsere Heimat stumpften, andererseits, weil wir uns verletzt fühlten durch das Mißtrauen, das in jener Maßregel zum Ausdruck kam.
War auch dieser und jener Fall vorgekommen, daß wir diese Maßregel verstehen konnten,
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so konnten wir doch im Innern nicht ganz darüber hinweg, da wir anderen unsere Pflichttreue und Redlichkeit bewiesen hatten und mehrfach Gelegenheit gehabt hatten, zum Feinde überzulaufen, wenn wir gewollt hätten.
In dieser Stimmung konnten wir dem Osten wenig Reiz abgewinnen.
Wir vermissten die schönen Berge unserer Heimat und schimpften weidlich über die Sandhügel von X. und übersahen dabei die Schönheiten dieser Stadt, ihre herrlichen Anlagen, die erhabene Majestät der Weichsel.
Und mich selbst beseelte nur der eine Wunsch, sobald wie möglich wieder ins Feld zu kommen.
Mein Wunsch fand Erfüllung. Schon mit dem nächsten Transport ging es zum Res.-Inf.-Regiment 5.
Das Regiment befand sich seit einiger Zeit bei dem Grenzorte Willenberg, wo es eine vollkommen ruhige Stellung innehatte.
Aber es war bekannt, daß es bald anderswo verwandt werden sollte.
Am Tage nach unserer Ankunft wurden wir vom Oberst besichtigt.
Hierbei fiel ich dem begleitenden Adjutanten aus.
»Was ist das für einer ?« sagte er, indem er aus mich hindeutete, »der siehst so ganz nach einem Künstler aus«.
Als ich seine Vermutung bestätigte, forderte er mich auf, demnächst etwas von meiner Kunst den Kameraden vorzuführen.
Ich kam dieser Aufforderung so bald wie möglich nach und veranstaltete eine große Vorstellung vor dem ganzen Bataillon, wobei ich besonders meine Kunst an einem selbsthergerichteten Mastbaume und auf einem von den Pionieren erhaltenen Drahtseile zeigte.
Ich fand großen Beifall und hatte einen Gewinn von 200 Mark, die ich zur Unterstützung notleidender Berufsgenossen an die Verbandszeitung der Artisten »Das Programm« in Berlin sandte.
Ein paar Tage später wurden wir mit der Bahn nach Ost-preußen verladen.
Von Tilsit fuhren wir aus Dampfern die Memel eine Strecke aufwärts und marschierten dann weiter.
Bei Jurburg stießen wir auf die Russen.
Es entspann sich ein heftiger Kampf, in dem diese so glänzend geschlagen wurden, daß sie sich in wilde Flucht ergossen.
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Nach dem Kampfe bei Jurburg folgten wir den Rußer unaufhaltsam, ohne Widerstand zu finden, bis wir jenseits der Dubissa auf bedeutend überlegene Kräfte stießen.
Nun waren wir an der Reihe, den Rückzug anzutreten, und so gingen wir denn auf das diesseitige Ufer zurück.
Dasselbe war hügelig, mit Gebüsch und Wald bestanden und beherrschte das jenseitige Ufer vollkommen, so daß es zur Verteidigung wie geschaffen war.
Wir setzten uns denn auch dort fest, verschanzten uns und erwarteten den Angriff der Russen.
Dieser blieb nicht lange aus.
Eines Tages griffen die Russen in großen Massen an.
Unser Maschinengewehrfeuer wütete schrecklich unter ihnen und richtete entsetzliche Verheerungen an.
Die ersten Reihen wurden einfach niedergemäht.
Allein die Zahl der Russen war zu groß, immer neue Scharen stürmten an, immer näher kamen sie.
Es gelang ihnen, an einigen Stellen durchzubrechen und unsere Stellungen zu überfluten.
Unsere Kameraden vor uns wandten sich zur Flucht.
Da kommt ein Unteroffizier und sagt: „Kinder, wir dürfen nicht zurück, wir haben keinen Befehl dazu“.
Wieder werfen sie sich nieder und erneuern das Feuer.
Doch nicht lange, dann verstummt es von neuem.
Ich blicke auf. Mit dem Verbinden der Verwundeten beschäftigt, habe ich so lange wenig darauf geachtet, was um mich her vorgeht.
Nun erschrecke ich über das, was ich sehe Russen vor uns,
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Russen hinter uns, Russen links und rechts non uns, und überall in gewaltigen Scharen.
Von den Unsrigen nichts zu sehen!
Ich befinde mich mit einem Sanitäter allein.
Guter Rat ist teuer.
Eine Flucht ist unmöglich. Schon nähern sich die Russen der Stelle, wo wir uns befinden Wir sind verloren.
In der Not springen wir in einen Schützengraben und verbergen uns im Unterstand.
Wir nehmen Revolver und Handgranaten zur Hand, und unser Gedanke ist, uns bis zum letzten Atemzuge zu verteidigen; denn sich gefangen zu geben, war nicht geraten, da die Rassen alles niederzustechen pflegten.
So wollen wir unser Leben so teuer wie möglich verkaufen.
Zum Äußersten entschlossen, warten wir der Dinge, die da kommen sollen.
Aber mein Hirn arbeitet fieberhaft, um einen anderen Ausweg zu finden.
Doch es muß schnell sein.
Denn durch einen Auslug sehe ich schon Rassen auf den Graben zukommen.
Da kommt mir ein rettender Gedanke: Meine Kunst muß uns helfen.
Sogleich bin ich aus dem Unterstande heraus, nachdem ich meinem Kameraden befohlen habe, darin zu verharren.
Dann winke ich und rufe ich den Russen zu und gehe ihnen zu verstehen, daß ich mich gefangen geben will.
Sie winken ihrerseits und deuten an, daß ich herauskommen soll.
Ihre Haltung verspricht nichts Gutes, doch ich denke, laßt nur, ich werde euch schon „kriegen".
Ich komme ihrer Aufforderung nach and klettere aus dem Graben heraus, dabei halte ich meinen Helm auf dem Kinn in der Schwebe, und wie ich oben bin, werfe ich ihn mit dem Kinn hoch in die Luft, um ihn sogleich mit dem Kopfe aufzufangen.
Die Russen sind vor Staunen dass. „Ah, Ctotakoi?
Was ist denn das? Sieh da, das ist ein Artist. Charascho!
Gut, noch mehr !“ Inzwischen bin ich an sie herangekommen ich reiche dem einen meine Uhr hin, er greift danach aber, sieh da, die Uhr ist verschwunden.
Doch wo ist sie?
Weder er noch ich habe sie, und ich zeige ihm meine leeren Hände.
„Ah, Ctotakoi“, geht es von neuem los, und da ziehe ich sie ihn von hinten unter seinen Rock hervor. Ein Grinsen geht über sein Gesicht,
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er klatscht in seine Hände und ruft: „Charascho!
Charascho!“ Inzwischen sind viele andere herangekommen.
Wie gebannt starren sie alle aus meine Taschenspieler funft stückchen.
Man klopft mir mehrfach auf die Schulter und ruft: „Charascho!“
Später kommt ein Mediziner heran.
Er hatte in Deutschland studiert und spricht fließend deutsch.
Er fragt mich, woher ich sei, und als er hört, daß ich: Elsasser sei, sagt er:
„Dann sind Sie ja kein Deutscher, sondern Franzose“
Damit wendet er sich an seine Landsleute: „Das ist kein Germanski, das ist ein Franzuski.“
Darauf bestürmen sie ihn mit Fragen, wie ich denn zu der Kleidung der Germanski und in ihre Reihen käme. Und nun erklärt er ihnen, die Elsässer würden von den Deutschen unterdrückt und geknechtet, und kämpften nur gezwungen gegen sie.
Da wollte das „Charascho“ uns Schulterklopfen kein Ende nehmen und ich hatte völlig gewonnenes Spiel.
Nun konnte ich auch an die Rettung meines Kameraden denken.
Ich teilte den Russen mit, daß noch ein zweiter Elsässer im Schützengraben sasse.
Gut, ich sollte ihn nur holen.
Ich holte nun meinen Kameraden, und dann kamen noch viele andere, die sich versteckt hatten, und die ich vorher nicht bemerkt hatte.
Sie wurden nun alle als Elsässer ausgegeben, so war denn allen das Leben gerettet
Wahrlich, nicht immer waren die Russen so glimpflich verfahren.
Wie ich von anderen hörte, hatten sie an Stellen unsere Kameraden reihenweise niedergeschossen oder erstochen.
So waren wir also nun wirklich gefangen.
Wie bitter klang dies Wort dem Ohr! Freundlos und traurig lag die Zukunft vor uns.
Aus Leiden ohne Zahl mußten wir gefaßt sein.
Nun, daß es so gekommen war, war ganz und gar nicht nach meinem Sinn.
Aber man lebte ja noch, man konnte noch hoffen.
Vielleicht bot sich eine Gelegenheit zur Flucht.
Wir waren ein ganzer Trupp Gefangener zusammen, als wir nach; dem jenseitigen Ufer der Dubissa geführt wurden.
Auf dem Wege dahin wurden wir erst so recht gewahr, wie unser
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Feuer unter den Russen gewirkt hatte. Die Toten lagen stellenweise zu Haufen übereinander. Es war ein schrecklicher Anblick!
Man konnte sich nun die Wut der Russen wohl erklären.
Da, als wir an die Dubissa kamen, schallte uns mit einem Male lustiges Mandolinenspiel entgegen.
Wir horchten auf „Puppchen[a], du bist mein Augenstern“ war es, was der betreffende Musikant spielte.
Wir sahen uns verdutz an.
Wie kam das hierher?
Ah, dachte ich, sollte das nicht dein Kamerad Eckert sein?
Gewiß hat er sich in ähnlicher Weise das Leben gerettet, wie du dir.
Und in der Tat, so war es!
Als wir hinüberkamen, trafen wir uns.
Unsere Freude war natürlich groß und wir begrüßten uns herzlichst.
Nach einiger Zeit wurden wir Offizieren vorgestellt, und nun wurden mir auch meine Waffen abgenommen, was man vorher infolge meiner Kunststücke ganz vergessen hatte.
Die Offiziere suchten uns auszufragen, hatten aber keinen Erfolg, da sich die einen unwissend stellten, die anderen falsche Angaben machten.
Am anderen Tage brachen wir nach dem Innern des Landes zu auf.
Unsere Begleitmannschaften waren Kosaken.
Sie schleppten einen alten Juden mit, der vermittelst eines Telefonapparates Verrat verübt haben sollte.
Er wurde von ihnen unbarmherzig geschlagen.
Unablässig sauste die Peitsche auf ihn nieder, und es war den Kosaken ganz gleichgültig wohin die Schläge trafen, ob Gesicht oder Kopf getroffen wurde.
Das Gesicht war schon ganz dick angeschwollen und blutunterlausen.
Am anderen Tage wurde er mit einem Male fortgeführt.
Wie es hieß, wurde er erschossen.
Es war besser für ihn, denn der Jammer war nicht mehr anzusehen
Es war bemerkenswert, daß die Kosaken, die dem Juden gegenüber so grausam gewesen waren, sich uns gegenüber im allgemeinen nicht unfreundlich zeigten.
An diesem Tage wurden wir noch einmal Offizieren vorgestellt.
Wir müssten nun auch unsere Bücher und Briefschaften abliefern, doch gelang es mir, das wichtigste von meinen Sachen in meiner Hose zu verbergen.
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Die Untersuchung dauerte stundenlang Währenddessen ging die Handele von seiten der Kosaken los.
Ein jeder wollte ein Andenken haben.
Zwar waren sie so anständig, zu bezahlen doch suchen sie auch ein Geschäft dabei zu machen.
Einem Kosaken hatte es mein Ring angetan.
Er forderte mich auf, ihm denselben zu verkaufen.
Ich sträubte mich, indem ich. vorgab, daß es ein Ehering sei und daß ich ihn deshalb nicht verkaufen könne.
Da trat sein anderer hinzu, der deutsch konnte und sagte: „Verkaufe den Ring, sonst wird er dir genommen.“
Ich verlangte nun 30 Rubel, ging aber schließlich auf 10 Rubel herab.
Wir wurden zu diesem Preise handelseinig.
Stolz zog der Kosake mit seiner Habe ab, aber ich selbst konnte mich kaum des Lachens erwehren, denn der Ring hatte wenig Wert, da er nur vergoldet war.
Ich hatte jedoch die Rechnung ohne den Wirt gemacht.
Denn nun trat der andere heran und verlangte Schweigegeld, da der Ring nicht echt sei.
Ich war verdutzt, musste nun aber wohl oder übel mit der Hälfte heran-Brücken, so daß ich letzten Endes doch der Geprellte war.
Nur musste ich mir allerlei Gedanken machen über die wunderbare Kameradschaftlichkeit, die der zweite Kosak dem ersten erwiesen hatte.
Mein Sanitäts-Besteck fand ebenfalls einen Liebhaber.
Ein russischer Stabsarzt kaufte es mir für fünf Rubel ab.
Nachdem nun alle unsere Briefe geprüft worden waren, zogen wir weiter.
Nach dreitägigem Marsche erreichten wir Kowno.
Von hier sollten wir mit der Bahn nach Moskau befördert werden, doch mussten wir in Kowno einige Tage bleiben, bis der Zeig kam, der uns mitnehmen sollte. Solange waren wir in einem gewaltigen Schuppen außerhalb der Stadt untergebracht, von wo wir einen schönen Ausblick auf die Stadt hatten.
Die Stadt machte mit ihren guten Häusern einen schönen Eindruck.
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Ein eigenartiges, wunderbar seltsames Aussehen gaben ihr die zahlreichen Zwiebelförmigen Knüppeln der Kirchen.
Unsere Verpflegung war reichlich, da der Kuchenunteroffizier, der aus Libau stammte, deutscher Herkunft war und uns gern etwas Gutes antun wollte.
Zum Essenholen mussten wir mittags und abends über einen freien Platz.
Dann drängten sich viele Leute heran, um uns zu sehen: Sie waren nicht unfreundlich und steckten uns diese und jene Gabe zu.
Die Wachen sahen dies wohl, doch mehrten sie ihnen nicht zu sehr.
Bei diesen Gelegenheiten des Essenholens gab ich zur größten Belustigung der Umstehenden manchen Spaß mit Zaubers-kunst-stücken an.
Besonders groß war die allgemeine Überraschung als man auf dem Platze am hellen, lichten Tage urplötzlich das liebliche Schlagen einer Nachtigall vernahm.
Verdutzt schaute man drein, und es dauerte geraume Zeit, bis man in mir die Nachtigall entdeckte
Durch solche Späße erwarb ich mir die Gunst der Bewohner, die man dadurch bewies, daß man mir allerhand zusteckte.
Eine junge Russin schien mir besonders zugetan zu sein.
Sie unternahm es sogar, abends an mein Fenster zu kommen, und mir Eier zu bringen.
Ich hatte nun bei der Untersuchung des Schuppens entdeckt, daß das eine Tor nicht verschlossen war.
Da kam mir der Gedanke, mit Hilfe der Russin eine Flucht zu versuchen.
Von einem Unteroffizier, der der polnischen Sprache mächtig war, ließ ich einen Brief schreiben in dem ich ihr mitteilte, daß ich zu fliehen gedachte, und sie bat, mir dabei behilflich zu sein.
Falls sie dazu bereit sein sollte, sollte sie mich am anderen Tage um 10 Uhr abends erwarten.
Dieser Brief ließ ich unversehens in ihren Aermel fallen, als sie mir wieder etwas brachte.
Sie hatte es wohl gemerkt und bestätigte den Empfang mit einem Lächeln.
Als ich sie am anderen Tage erblickte, gab sie mir zu verstehen, daß sie mit helfe wolle.
Wer war froher als ich! Mit fieberhafter Spannung sah ich dein ersehnten Augenblick entgegen, wo mir die Freiheit winken sollte.
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Schon war es 5 Uhr nachmittags, nur noch fünf Stunden also.
Wie mir das Herz pochte.
Da kam plötzlich der Befehl zum Aufbruch, und zwei Stunden später fuhren wir nach Moskau ab.
Ich schäumte innerlich vor Wut; denn ich mußte mir sagen, daß wir nun weit ins Innere Rußlands kommen würden und daß sich damit die Aussicht auf eine erfolgreiche Flucht bedeutend verringere.
Aber, was war zu tun?
Man musste sich in sein Schicksal fügen.
Die Fahrt bis Moskau dauerte ungefähr acht Tage.
Sie war indes anregend und abwechslungsreich, da die Gegenden, Einrichtungen, Sitten und Gebrauche die wir unterwegs kennen lernten, mancherlei Neues und Eigenartiges boten.
Nicht wenig verwunderten wir uns über die gut und sauber gebauten Bahnlinien und über die schmucken Bahnhöfe.
Es war so zu sehen, was alles das Geld, das Frankreich Russland gepumpt hatte, den Russen ermöglicht hatte.
Wir hielten sehr häufig auf den Bahnhöfen wir durften auch aussteigen und uns kaufen, was wir wollten. Wir kauften uns „Tschei“ (Tee) und Esswaren in den „Tscheibuden« (Teebuden).
Auch hier versäumte ich es nicht, durch kleine Kunststücke die Aufmerksamkeit aus mich zu lenken.
Das hatte zur Folge, daß ich des öfteren von den «Tscheibudenbesitzern dieses und jenes umsonst bekam, das ich mit den Kameraden teilen konnte.
Auf einem Bahnhof hatte ich ein neckisches Erlebnis.
Es traf sich zufällig so, daß neben uns ein Personenzug hielt.
Die russischen Reisenden eröffneten sofort ein regelrechtes Geldwechselgeschäft, bei dem sie nach Möglichkeit zu ihrem Vorteil zu wechseln suchten.
Als ich das merkte, dachte ich, das kannst du auch.
Wie ich nun gleichfalls von einem Reisenden wegen deutschen Geldes angegangen wurde, zeigte ich ihm eine Mark und verlangte dafür schlankweg zwei Rubel.
Der Russe, baff über diese Keckheit, schlug die Hände über den Kopf zusammen.
Um ihn zu beruhigen, zeigte ich ihm dann ein Fünfmarkstück dafür war er sofort bereit, mir zwei Rubel zu geben.
Ich war’s zufrieden,
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und so konnten wir handelseinig werden.
Aber in demselben Augenblick ging unser Zug los.
Nun hieß es für uns beide eilig sein.
Rasch gab der Russe mir die zwei Rubel rüber, und ich reichte ihm zu gleicher Zeit das Fünftmarkstück.
Er griff danach und wollte befriedigt die Münze in die Tasche stecken.
Aber da! War ihm etwas seltsam vorgekommen?
Er sah sich noch einmal die Münze an, und — o weh, welch ein Schreck war das nun für ihn, als er sah: das er nicht ein« Fünfmarkstück sondern das Einmarkstück in den Händen hatte, das ich ihm zuerst gezeigt hatte.
Er schnaubte fürchterlich vor Wut und schrie und tobte und drohte.
Allein wir waren schon weg.
Was konnte er tun?
Wir sahen zwar noch eine ganze Zeit das wütende Fuchteln seiner Arme.
Doch konnte das nur zu unserer Belustigung dienen.
Moskau selbst sollten wir nur von weitem zu sehen bekommen.
Wir stiegen ans einem Güterbahnhof außerhalb der Stadt aus und wurden auf seinen großen freien Platz geführt.
Wir waren 10000 Gefangene beisammen.
Man teilte uns nun für verschiedene Lager ein.
Die Reichsdeutschen sollten nach Sibirien, die Österreicher nach Jelisch, andere nach Tula, die Elsässer und Deutsch-Polen nach Broderodixt in ein besonderes Lager, wo sie es besser haben sollten als die anderen.
Die Züge, die uns nach unseren Lagerorten bringen sollten, standen schon bereit, aber die Einteilung nahm beträchtliche Zeit in Anspruch.
Hierbei ging es nicht ohne Willkürlichkeit und Gewalttätigkeit ab.
So wurde ein Leutnant, der einen politischen Namen hatte, ohne weiteres den Polen zugeteilt, und als er dagegen Einspruch erhob, wurde ihm kurzweg Schweigen befohlen.
Er habe einen politischen Namen, sei also Pole, und damit basta.
Ein russischer Offizier fand Gefallen an seinem Helm und forderte ihm denselben ab.
Als er sich weigerte, der Aufforderung nachzukommen, riß ihm der Russe einfach den Helm vom Kopf und ließ ihm dafür zum Gelächter der Russen eine einfache Soldatenmütze aussetzen.
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Endlich war es so weit, daß wir zum Abmarsch bereit standen.
Die Reichsdeutschen zogen zuerst ab.
ich hatte bemerkt, daß neben ihrem Zuge ein anderer stand, der nach der entgegengesetzten Richtung, also nach Deutschland, fuhr.
»Das ist vielleicht eine Gelegenheit zum Fliehen«, kam es mir in den Sinn.
Schon hatte ich mich unter sie gemengt.
Niemand hatte es bemerkt, so daß ich glücklich mit ihnen zum Bahnhof gelangte
Hier suchte ich das Durcheinander zu benutzen und in jenen anderen Zug zu springen, der Fahrtrichtung nach Deutschland zu hatte.
Dabei hatte ich jedoch Pech, indem ich von einem Posten « bemerkt wurde.
Es gab nun ein wütendes Geschimpfe und Gefluche.
Ich spielte aber den Dummen, gab an, das müßte doch der Zug sein und konnte es nicht begreifen, daß dies nicht der Fall sein sollte, und ich spielte meine Rolle so gut, daß man mit mir nichts anderes anzufangen wußte, als mich zu den Elsässern wieder zurückzuführen
Als wir in Broderodixt angekommen waren, wurden uns von einem Feldwebel sämtliche Knöpfe und Kokarden abgerissen
Der Zweck dieses Vorgehens war uns allen nicht klar.
Es war eben nur eine Handlung des Hasses und der Feindseligkeit.
Das Gefangenenlager war klein, so daß wir nur wenig Platz hatten, und uns über Bequemlichkeit gerade nicht beklagen konnten.
Wir wurden bald aufgefordert zu arbeiten.
Ich weigerte mich, dieser Aufforderung nachzukommen, und indem ich darauf hinwies, daß ich Sanitäter sei, verlangte ich, daß ich ausgetauscht würde.
Damit erreichte ich aber gar nichts, und so war ich« denn doch gezwungen, zu arbeiten.
Ich wurde zunächst auf einer Baustelle beschäftigt, wo es meine Aufgabe war, Backsteine heranzuschleppen.
Mit Fleiß arbeitete ich einige Stunden, dann machte ich mir den Spaß, einige Steine mit der Faust zu zerhauen.
Sofort war ich von Neugierigen umringt, die immer
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wieder das große Wunder sehen wollten, und da sich.
Edie Kunde von meiner Kunst wie ein Lauffeuer verbreitete, war bald eine ungeheure Schar von Schaulustigen herbeigeeilt
Von meiner Arbeit wurde unter diesen Umständen nicht viel, und auch die übrigen wurden davon abgehalten Der Bauherr war natürlich voller Wut darüber, konnte aber nichts machen, da die Zuschauer für mich Partei ergriffen.
Da schickte er mich wieder zum Gefangenenlager zurück mit der Erklärung, daß er mich für seine Art Arbeit nicht gebrauchen könnte.
Nun wurde ich beim Straßenbau angestellt.
Hier trieb ich wie vorher, und so ereignete sich dasselbe wie vorher.
Besonders beliebt war ich natürlich bei der Jugend, die mir ihre Zuneigung dadurch bewies daß sie mir Semmel und Weißbrot in Mengen brachte.
So vergingen mehrere Tage, da wurde ich infolge Bildung von Furunkeln arbeitsunfähig und kam ins Lazarett.
Einige Tage danach kam der Befehl, daß alle diejenigen, die nicht arbeiten könnten oder wollten, zur Strafe nach Asien ins Strafgefangenenlager gebracht würden.
Zu diesen Unglücklichen gehörte auch ich.
Wir wurden zunächst in das Sammellager Jelrisch gebracht, von wo aus die große Reise angetreten werden sollte.
Es dauerte aber geraume Zeit, bis alle Leidensgenossen beisammen waren.
Es waren unter uns viele Österreicher, namentlich viele Studenten, darunter reiche Leute.
Da ich ein Drahtseil hatte baute ich es auf und gab eine Vorstellung und erzielte einen Gewinn von 30 Rubel.
Bei der schönen Stadt Taschkent,
In dem fernen Orient,
Von den Lieben weit verbannt,
Schmachten wir im Wüstensand.
Endlich ging die Fahrt nach Asien los.
Sie dauerte sehn lange und brachte mancherlei Beschwerlichkeiten mit sich,
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die man aber nicht so empfand, infolge des vielen Neuen, Schönen und Wunderbaren, das wir zu sehen bekamen.
Zuerst ging es durch lauter wunderschöne Landstriche, durch die herrliche Wolga-gegend, dann über den Uralfluss an dem hochliegenden Orenburg vorbei, wo wir russische Soldaten exerzieren sahen, und dann immer weiter, immer weiter.
O, wie unendlich groß war doch dieses Russland!
Wie klein demgegenüber unser eigenes Vaterland, und wieviel wunderbarer darum seine Leistungen!
Wochenlang waren wir so durch schöne Gegenden gekommen.
Da, hinter dem Uralfluss, wurde es allmählich öde und wüste.
Kamele tauchten auf, geleitet oder geritten von schweigsamen, gelbhäutigen Menschen, die mit einem Turban und mit weiten Pumphosen bekleidet waren und die uns in dieser Tracht so seltsam anmuteten.
Wir bemerkten, wir befanden uns in einer neuen Welt.
Wir waren in Asien.
Die Hitze wurde immer glühender und brennender, und zuletzt wurde es unerträglich heiß.
Selbst die Tiere in der Natur litten entsetzlich darunter, denn weit und breit gab es weder Baum noch Strauch.
Die Vögel setzten sich in den Schatten der Telegraphenstangen, um wenigstens etwas Schutz gegen die sengende Sonne zu haben, und es war eigenartig anzusehen, wie sie mit dem Schatten immer mitwanderten.
Unter der Hitze hatten natürlich auch wir arg zu leiden, die wir in den Wagen eng zusammengepfercht saßen.
Wir suchten es uns erträglich zu machen, indem wir immer mehr von unserer Kleidung ablegter so daß wir schließlich fast unbekleidet dahinfuhren.
So ging es mehrere Tage.
Um uns herum überall dasselbe Bild, öde und leere Wüste.
Endlich wurde das Landschaftsbild wieder belebter der Aralsee tauchte auf mit seinem Gewimmel von Schiffen und Kähnen, und nun sagte man uns, daß es nicht mehr weit zu unserem Bestimmungsort sei.
Die Gegend wurde allmählich hügelig, immer größere Hügel tauchten auf, und dann mit einem Male sahen wir große Berge vor uns, und weit, weit hinten - welch ein wunderbar erhabenes Schauspiel! — gewaltige mit Schnee und Eis bedeckte Berggipfel.
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Ich und andere Kameraden ans dem gebirgigen Deutschland wurden bei diesem Anblick mit doppelter Gewalt an unsere Heimat erinnert Unendlich weh wurde uns in unserem Herzen. O, werden wir sie je wiedersehen, unsere trauten, heimatlichen Berge?
Wie weit waren wir doch von ihnen ab!
Mit doppelter Gewalt kam uns die Traurigkeit unserer Lage zum Bewusstsein.
Es dauerte nun nicht lange, da sahen wir Taschkent vor uns liegen.
In Schlangenlinie kroch die Bahn langsam hin, endlich um 10 Uhr abends langten wir an.
Es war somit dunkel und wenig mehr zu sehen, als wir in das Gefangenenlager kamen.
Wie waren wir nun verwundert, die Gefangenen alle auf dem Boden liegen zu sehen.
Aber man rief uns zu: „Haut euch auch nur nieder!
Da drinnen in den Baracken ist es doch nicht auszuhalten vor denn Ungeziefer und der Hitze.“
So taten wir, wie es uns gesagt war, und verbrachten, wie die anderen, die Nacht unter freiem Himmel, im Ungewissen darüber, in welchen Verhältnissen wir uns nunmehr befanden.
Am anderen Tage konnten wir unsere Lage überschaue, aber nach allem, was wir sahen, konnten wir uns kein verlockendes Zukunftsbild entwerfen Wir befanden uns in einem gewaltig großen Lager, das gegen 50000 Gefangene fasste.
Es waren dies zumeist Deutsche und Österreicher.
Als Unterkunftsräume dienten ein gewaltiger Kasernenblock und zahllose Baracken.
Ringsum war das Lager von einer hohen Mauer umgeben.
Die Gefangenen waren auf die Baracken nach Stämmen und Völkerschaften verteilt, so daß in dem einen Barackenviertel nur Deutsche wohnten, in einem anderen Deutsch-österreicher, in einem dritten Tschechen usw.
Um uns Neuangekommene kümmerte sich in den ersten Tagen niemand.
Aber wir sahen an den anderen, welches Los uns blühte.
Die Gefangenen mussten schwer arbeiten, den ganzen Tag Sand aus der Wüste holen, Backsteine tragen, Waggons abladen, und das bei einer entsetzlichen Sonnenglut, die oft gegen 50 Grad betrug.
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Dabei setzte es ohne Gnade Kolbenstöße und Schlage, wenn es den Wachtleuten zu langsam zu gehen schien.
Wenn nur die Verpflegung noch einigermaßen gewesen wäre!
Aber diese war mehr als kläglich; sie bestand zumeist aus Suppe ohne Salz und Kraft.
Das Brot war schwarz wie Torf und schier unverdaulich.
Unter diesen Umständen konnte es denn nicht ausbleiben, daß Krankheiten, wie Malaria, Typhus, Cholera wüteten; und mancher kerngesunde, blühende Mensch, der glücklich alle Gefahren und Strapazen des Feldzuges überstanden hatte, wurde hier von Seuche oder Entbehrung dahingerafft.
Wie grausam war doch das Schicksal!
Welch eine herzlose Dirne das Glück!
Das Herz konnte einem stillstehen bei dem Anblick all des Jammers.
O, sie hatten furchtbar zu leiden, die armen Kameraden.
Niemand wird es vergessen, der es gesehen hat.
»Euch, Gefährten, kann ich nicht vergessen,
Die Ihr dort mit mir gelitten,
Die Ihr von Leid und Marter übermannt,
Hinsankt in den Wüstensand.«
Mir selbst half die Kunst in dieser traurigen Lage.
Es gelang mir, vom Kommandanten die Erlaubnis zu erwirken, Vorführungen zu veranstalten. Die Wirkung meiner Vorführungen war ungeheuer, die russische Posten, die Ähnliches nie gesehen hatten, wurden von Entsetzen ergriffen, bekreuzigten sich und liefen davon, indem sie schrien: »Germanski Tschort!
Germanski Tschort!
Der Deutsche ist ein Teufel, der Deutsche ist ein Teufel«,
und ich merkte, daß selbst der Kommandant von einer abergläubischen Furcht erfüllt war, und als ich gar Steine mit meiner Faust zerschlug, wandte er sich mit einem derben Fluche ab, um nichts mehr weiter davon zu sehen.
Die Kunde von mir und meinen Künsten gelangte auch ins Offizier Gefangenenlager, das nicht weit ablag.
Die Offiziere wollten nun ebenfalls gerne meine Vorführungen sehen, und sie setzten es durchs, daß ich auch in ihrem Lager austreten durfte.
Die Freude dort war bei allen groß.
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Denn, war auch die Lage der Offiziere im allgemeinen besser als die der Mannschaften und Unteroffiziere, so litten sie doch gleichfalls unter dem ewigen Einerlei, und mein Auftreten brachte eine gern gesehen Abwechselung in dem stumpfsinnigen Dahinbrüten.
Als ich bei meiner Steinnummer anlangte, erlaubte ich mir den Scherz, daß ich die einzelnen Steine, die ich in Stücke schlug, mit dem Anfangsbuchstaben der uns feindlichen Länder bezeichnete, und ich deutete somit an, daß es diesen Ländern ebenso ergehen würde wie jenen Steinen.
Dieser Scherz wurde mit großem Beifall bedacht.
Doch merkte ich, daß die Begeisterung von einzelnen nicht geteilt wurde.
Es waren dies Angehörige der fremden Volksstimme Österreichs, wie Tschechen und österreichische Serben; darum ließ ich diesen Scherz, wenn ich diese Nummer wieder vorführte, weg, weil ich Verrat und Unannehmlichkeiten befüchtete, wie sie nachher auch wirklich eintraten.
Im Offizier Gefangenenlager blieb ich bald dauernd, da ich als Sanitäter Beschäftigung im Lazarett fand.
Hierzu kam ich ganz zufällig.
Ich war eines Tages ins Lazarett gegangen, das ganz von deutschen Ärzten geleitet wurde, um den Betrieb und die Verhältnisse in demselben kennen zu lernen.
Der Zufall fügte es, daß ich den Arzt gerade bei der Arbeit traf;
ich erbot mich, ihm beim Verbinden behilflich zu sein.
Da ihm meine Arbeit gefiel, mochte er mich nicht mehr missen und forderte mich auf, ihm immer zu helfen.
Mir war das durchaus recht, und so war ich von da an als Krankenpfleger im Lazarett tätig.
Der Vorteil bei dieser Stellung war, daß ich etwas mehr Freiheit und die Erlaubnis erhielt, in die Stadt zu gehen, wann immer ich Einkäufe für das Lazarett zu besorgen hatte.
Diesen Vorzug meiner Stellung nützte ich reichlich ans, indem ich, auch wenn es keine Einbäufe zu machen gab, vorgab, solche machen zu müssen.
Es war nämlich ein köstliches Vergnügen, die fremde Stadt und das Leben und Treiben in ihr zu schauen,
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und weil die Stadt von bedeutender Größe ist, gab es recht viel zu sehen.
Zwar war mir, da die Stadtviertel außerordentlich auseinander:
gezogen sind, und da mir immer nur kurze Zeit zur Verfügung stand, ein Rundgang durch die ganze Stadt nicht möglich
Aber auch so bot das, was mir zu schauen vergönnt war, des Reiz-vollen genug
Denn in den Straßen herrscht infolge des schwunghaften Handels, den die Stadt betreibt, Tag für Tag ein gewaltiger Betrieb.
Tag für Tag findet Markt statt, und da ist es denn für den Beobachter ein wunderbares Schauspiel, wenn sich die sonst so ruhigen und stillen Männer beim Feilschen und Handeln ereifern und in Erregung geraten, und wenn man dazwischen durch die verschleierten Kirgisen Frauen, häufig ihr Kind im Tuche auf dem Rücken tragend, geschäftig hin- und her-eilen sieht.
Trotz dieses Verkehrs herrscht immer peinliche Sauberkeit, da täglich gefegt und gesprengt wird.
Allerdings macht das Sprengen wenig Mühe, da in den Rinnsteinen ständig Wasser rieselt.
Die Behausungen sind einfach und eigentlich nur runde Hütten, aus Bambusstöcken gebaut.
Darin liegen denn nun die Kirgisen und trinken ihren mit Obst angetanen „Tschei“ (Tee)- und rauchen ihren Opium und plaudern dazu.
Ihre Haltung uns Gefangenen gegenüber war durchaus nicht feindselig, am allerwenigsten mir gegenüber, nachdem sie mich als Künstler kennen gelernt hatten, ja es mochte wohl vorkommen, daß dieser und jener mich von weitem freundlich grüßte, wenn er mich sah.
Einen geheimen Haß aber hegten sie den Rassen gegenüber.
Ich hatte mir, wie aus dem Erzählten hervorgeht, eine Lage geschaffen, die man als einigermaßen erträglich bezeichnen dürfte.
Dies war umso mehr der Fall, als ich wegen Geld und Lebensmittel nie in Verlegenheit kam.
Ja, mir floß davon soviel zu, daß ich mich auch um meine Kameraden im
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Mannschaftslager kümmern konnte, und oft ließ ich mich von einem Posten hinübergeleiten, um meinen Kameraden Tabak und Lebensmittel und den Kranken Geld zu Milch und Weißbrot zu geben.
Trotzdem es mir also besser ging, als den meisten meiner Kameraden, ließ mir doch die Sehnsucht nach Freiheit und Heimat keine Ruhe, und so aussichtslos ja eine Flucht von hier erschien, so hörte ich doch nicht auf, immer wieder die Landkarte zu studieren und darüber nachzudenken, ob sich nicht doch eine Flucht ermöglichen ließe.
Und da kam ich, nachdem einige Wochen seit unserer Ankunft vergangen waren, und ich mit Land und Leuten und deren Sprache einigermaßen vertraut geworden war, auf den tollkühnen Plan, durch Persien nach der Türkei zu entfliehen.
Aus dem Gefangenenlager ins Freie zu gelangen, war nicht schwierig, da die Mauer, von der dasselbe umgeben war, nur eine geringe Höhe hatte, und was die Bewachung betraf, so wurde sie ziemlich nachlässig gehandhabt.
Man verließ sich einfach darauf, daß niemand eine Flucht versuchen würde, da eine solche in dieser weltentlegenen Gegend wenig Aussicht auf Erfolg hatte.
Der Verlauf meines Fluchtunternehmens ließ sich zuerst recht günstig an.
Nachdem ich einige Tage zu Fuß gewandert war, fand ich Anschluss und Aufnahme bei einer jener Kirgisen-karawanen, die das Land durchreisen.
Die Kirgisen führten mich gern mit, wegen der Kunststücke, die ich ihnen vorführte Vierzehn Tage war ich mit ihnen bereits unterwegs, da wurde mir die Weiblichkeit, die mir sonst so manchen guten Dienst erwiesen hat, unvermutet zum Verderben
Eine der Kirgisen Frauen zeigte solches Wohlgefallen an mir und meinen Darbietungen, daß ihr Mann eifersüchtig wurde, und, um mich los zu werden, verriet er mich einfach einer vorbeireitenden Kosakenpatrouille, wodurch er gleich zwei Fliegen mit einem Schlage erschlug, indem er für seine Anzeige noch den für Ergreifung eines entflohenen Gefangenen ausgesetzten Preis von fünf Rubeln erhielt.
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Ins Gefangenenlager zurückgebracht, wurde ich ins Gefängnis geworfen, und nun hätte es mir recht schlecht ergehen können.
Denn, da man sich im Allgemeinen wenig um das Los der Eingekerkerten kümmerte, hätte ich, wer weiß, wie lange, in dem Gefängnis sitzen können, bis jemand auf den Gedanken gekommen wäre, daß ich auch mal wieder aus demselben entlassen werden müßte.
Diesmal kam mir aber der Umstand zu Nutzen, daß ich Elsässer bin.
Es war nämlich in jenen Tagen der Befehl gekommen, daß alle Elsässer nach Frankreich geschafft werden sollten.
Als ich das hörte, teilte ich dem Wachthabenden sofort mit, daß ich Elsässer sei.
Daraufhin entließ mich dieser sogleich, indem er meinen Namen in die Liste der Elsässer eintrug.
Mit der Entlassung aus dem Kerker war ich recht zufrieden, weniger aber damit, daß ich an der Fahrt nach Frankreich teilnehmen sollte.
Was sollte ich dort?
Was konnte mir daran gelegen sein, nach Frankreich zu kommen?
Ich wollte nach Deutschland.
Ich wollte die Freiheit.
Schon dachte ich darüber nach, wie ich mich der Mitreise entziehen könnte, da machte mich ein Offizier darauf aufmerksam, daß es niemals eine bessere Gelegenheit zur Flucht geben könnte, als auf dieser Fahrt, weil sie zum Teil durch neutrales Gebiet ginge, und er eröffnete mir, daß wir auf dem Landwege über den Balkan, dann über das Adriatische Meer nach Italien, und von dort nach Frankreich gebracht werden sollten.
Als ich dies hörte, war ich natürlich Feuer und Flamme für die Mitfahrt.
Da erfuhr ich aber von Kameraden, die mir gewogen waren, daß ich keine Aussicht hätte, mit dem Transport mitzukommen, weil ich von einem Elsässer, namens O., als deutschgesinnt verraten sei.
Zum Beweise für meine deutsche Gesinnung habe dieser von meinem Scherz erzählt, den ich mir bei der ersten Vorstellung im Offizier Gefangenenlager, gelegentlich der Steinnummer, erlaubt hatte.
Über diese Niederträchtigkeit war ich aufs äußerste empört.
Allerdings hatte jener O. Grund, mir gram zu sein.
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Hatte ich ihn doch seinerzeit wegen Unterschlagung von Geldern, die für Kameraden bestimmt waren, entlarvt.
So suchte er sich denn in dieser Weise zu raschen, aber ich dachte, daß er die Rechnung ohne den Wirt gemacht haben sollte.
Zunächst einmal stellte ich ihn zur Rede.
Zwar suchte er alles abzuleugnen, ich empfahl ihm aber, mit allen Mitteln dafür zu sorgen, daß mein Ausschluss von dem Transport rückgängig gemacht würde, und ich machte ihm klar, daß er sich nichts Gutes zu versehen hätte, falls ich nicht mitkäme Außerdem ging ich sogleich zum Feldwebel und suchte ihn zu überreden« meinen Namen mit in die Liste aufzunehmen.
So glaubte ich zur Erreichung meines Zieles genug getan zu haben.
Der Tag des Abmarsches kam heran.
Die Namen derjenigen« die mitreisen sollten, wurden verlesen.
Vergebens wartete ich darauf, daß auch der meinige genannt würde.
Da mischte ich mich trotzdem mitten unter die anderen, entschlossen, meine Teilnahme an der Fahrt unter allen Umständen durchzusetzen
Von den Kameraden fragte mich keiner zu verraten, und so wurde es gar nicht bemerkt daß ich mich unter ihnen befand.
Infolgedessen ging zunächst alles wunschgemäß
Auf dem Marsche zeigte sich die schurkische Gesinnung des O. im grellsten Lichte.
Unter uns war seiner, der halb zum Krüppel geschossen war und sich deshalb von Anfang an nur mit Mühe mitschleppen konnte.
Schließlich war er erschöpft und konnte nicht mehr weiter.
Als die Kameraden darauf aufmerksam machten und um Verlangsamung des Marsches baten, rief O. ungefähr folgendermaßen aus:
»Ach, was! Laßt ihn doch liegen!
Wer nicht folgen kann, bleibt eben zurück.
Was ist dabei zu ändern!«
Die Empörung über diese Rücksichtslosigkeit und hässliche Gesinnung war allgemein, und unter gewöhnlichen Umständen wäre es dem O. übel bekommen, aber man wagte nicht, ihm etwas zu tun, da er sich mit den Wachtposten zu gut stand.
Da ich als Sanitäter gewohnt bin, Verwundete zu tragen, nahm ich mich des Unglücklichen an, packte
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ihn auf meine Schulter und schleppte ihn in dieser Weise glücklich bis zum Bahnhof, so beschwerlich dies auch war.
Hier auf dem Bahnhof selbst kam für mich der heikelste Augenblick, da noch einmal abgezählt wurde und die Namen der einzelnen noch einmal aufgerufen wurden.
Dabei kam es denn heraus, daß ich überzählig war.
Man beabsichtigte nun nichts Geringeres, als mich wieder zum Lager zurückzuschicken
Aber ich wandte meine ganze Überredungskunst an, und es gelang mir schließlich» den Transportführer dahin zu bewegen, daß er mich doch mitreisen ließ.
So ging es denn nun wieder nach Russland zurück, zurück den Weg, den wir gekommen waren.
Ich war voller Freude darüber, daß es mir doch gelungen war, meine Mitfahrt durch zusetzen, und ich entwarf schon allerlei Pläne, wie ich es in Bulgarien anstellen wollte, zu entfliehen.
Daß mir die Flucht gelingen müsste, daran kam gar kein Zweifel auf, und so schien mir die Fahrt nichts anderes zu sein, als die Rückkehr aus der Gefangenschaft in die Freiheit.
Wie bitter war da die Enttäuschung als offenbar wurde, daß aus allem diesen nichts werden konnte·
Als wir in Saratoff ankamen, traf die Nachricht von der Kriegserklärung Bulgariens ein.
Somit war der Weg über Bulgarien gesperrt, die geplante Reise mußte ausgesetzt werden.
Als es offenbar geworden war, daß wir in Russland verbleiben mussten, wurde ein Teil von uns zur Arbeit in der Munitionsfabrik von Saratoff abgeordnet.
Die anderen, ungefähr 80 Mann, darunter auch ich, wurden nach dem Dorfe Druschkowka, im Gouvernement Ekaterinoslaw, geschickt, damit wir dort ebenfalls in einer Munitionsfabrik arbeiteten.
Wir fanden in Druschkowka ein Dorf von ungefähr 10000 Einwohnern vor, das infolge des Reichtums der Gegend an Eisenerzen eine bedeutende Eisenindustrie besaß.
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Diese lag hauptsächlich in den Händen französischer Unternehmer, so daß in dem Dorfe eine beträchtliche Anzahl Franzosen wohnte.
Uns Gefangene brachte man in den Speisesälen des Fabrikgebäudes unter.
Man hatte uns gesagt, daß wir in Druschkowka nicht wie Gefangene gehalten werden sollten, sondern außerhalb der Arbeitszeit vollkommene Freiheit haben sollten.
Wie zu erwarten stand, kam es in Wirklichkeit ganz anders.
Denn, als einige im Vertrauen auf obiges Versprechen das Lager verlassen wollten, um sich nach der Stadt zu begeben, sahen sie plötzlich die Bajonette russischer Posten auf sich gerichtet.
Alles Reden und alle Vorstellungen halfen nichts.
Der „Brhsto“, d. h. Bürgermeister, weigerte sich, die versprochenen Freiheiten zu gewähren, weil dann die übrigen Gefangenen in dem Orte, wie Polen und Tschechen das Gleiche verlangen würden und Unzuträglichkeiten zu erwarten wären, wenn eine so große Zahl von Gefangenen frei umherliefe.
Mit der Freiheit war es also nichts, und wir mußten uns ohne diese begehen.
Aber wir hatten wenigstens den Vorteil, daß wir schöne, neue, saubere Kleidung von der Fabrik geliefert bekamen.
Da das Unternehmen ständig vergrößert wurde, kamen immer mehr Gefangene nach dem Orte, so daß unsere Zahl nach und nach auf 500 Mann stieg, die in zwei Lagern untergebracht waren.
Mit mir selbst wußte man zunächst nichts anzufangen, weil man mir als Artisten gewöhnliche Arbeit nicht zumuten mochte.
Schließlich wurde ich, als ich, angab, daß ich Sanitäter sei, ins Revier geschickt.
Hier waren bereits zwei, die nichts zu tun hatten, und als ich auch noch hinzukam, waren es ihrer drei.
Nach einiger Zeit wurde für die Elsässer ein neues Lager außerhalb des Dorfes, zwanzig Minuten von der Fabrik entfernt, gebaut, das mit 300 Mann belegt wurde, zu denen auch ich gehörte.
Da ich bei den Kameraden großes Vertrauen genoss, wählten sie mich zum Lebensmittelverwalter.
In dieser Stellung lag mir die Kontrolle über die Lebensmittel die von den
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Geschäftsleuten geliefert wurden, und deren Verteilung ob.
Um mich des Vertrauens der Kameraden würdig zu zeigen, hatte ich ein wachsames Auge darauf, daß alle Lebensmittel in der vorgeschriebenen Menge und in dem vorgeschriebenen Gewicht geliefert wurden und daß die Kameraden das ihnen Zustehende bekamen.
Die Küche führte ebenfalls einer von den unsrigen, der auch schon ein bewegtes Leben hinter sich hatte.
Dieser, ursprünglich ein Deutscher, war Fremdenlegionär gewesen und nach seiner Dienstzeit Franzose geworden.
Zu Beginn des Krieges hatte er sich zufällig in Deutschland befunden und war wegen seiner deutschen Herkunft ins deutsche Heer gesteckt worden.
An der Ostfront war er dann in Gefangenschaft geraten.
Wegen seiner Teilnahme am Kriege als deutscher Soldat wurde er später, als wir nach Frankreich kamen, vor ein Kriegsgericht gestellt, aber da er nachweisen konnte, daß er sich in einer Zwangslage befunden hatte, ungeschoren gelassen.
Zu unserer Unterstützung waren zwei Frauen angestellt, die die Küchenarbeiten zu verrichten hatten.
Eines Tages wurde mir hinterbracht, daß diese einen Teil von den für die Gefangenen bestimmten Lebensmitteln, wie Wurst und Fleisch, für sich unterschlugen.
Ein Kamerad hatte beobachtet, wie sie diese Waren flugs beiseite schafften, wenn der Kutscher die Lebensmittel ablud und wegtrug und daß sie ihre Beute im Keller versteckten, um sie nachher mitzunehmen, wenn sie nach Hause gingen.
Ich fand diese Mitteilung bestätigt und entdeckte in dem Keller die gestohlenen Sachen.
Ich nahm diese weg und stellte die Frauen zur Rede.
Sie waren außerordentlich erschrocken und baten mich flehentlichste, sie nicht anzuzeigen.
Da sie sich in dieser Weise reumütig zeigten, nahm ich von der Anzeige Abstand, und sie ließen sich von dieser Zeit an in der Tat nichts mehr zu Schulden kommen.
So klappte die Lebensmittelversorgung vorzüglich.
Die Kameraden bekamen immer ausgezeichnetes Essen, und ich selbst verlebte eine Reihe schöner Tage.
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Leider geriet ich nun in Streit mit dem Fremdenlegionär.
Ich machte nämlich die Erfahrung, daß er gleichfalls Nahrungsmittel unterschlug, indem er z. B. an Gefangene statt zwei Kübel Kartoffeln nur einen Kübel gab.
Als ich ihn deshalb zur Rede stellte, beschimpfte er mich in der unflätigsten Weise.
Ich gab ihm dafür einen Denkzettel in der Weise, daß ich ihn ergriff, und so lang wie er war, in den Kohlenkasten setzte.
Dann begab ich mich zum Direktor der Fabrik, teilte ihm den Vorgang mit und bat ihn, entweder den Fremdenlegionär seiner Stellung zu entheben, oder mir einen anderen Posten zu geben.
Als mir der Direktor daraufhin mitteilte, daß noch sein Sanitäter im Lazarett des Ortes notwendig gebrauchst würde, nahm ich diese Stellung an. Und wenn ich damit auch noch weiter im Lager stationiert blieb, so war ich doch fast den ganzen Tag außerhalb im Lazarett tätig, so daß ich mit dem Fremdenlegionär nichts mehr zu tun hatte.
Zu dieser Zeit ging mir die traurige Nachricht von dem Ableben meines Vaters zu, die die Sehnsucht nach der Heimat mit doppelter Gewalt wieder wachrief, um so mehr, da ich mir Sorgen um das Los meiner Mutter machen mußte.
Aber es zeigte sich keine Möglichkeit, aus der Gefangenschaft zu entkommen
Im Lazarett waren die Zustände, die ich vorfand, nicht vom Besten.
Mit den Kranken wurde wenig Aufhebens gemacht; die Behandlung war in fast allen Krankheitsfällen dieselbe.
Der Kranke erhielt ein Pulver — es handelte sich immer um dasselbe — außerdem einen Tag Ruhe, und dann hieß es wieder arbeiten.
Ob der Betreffende dazu imstande war oder nicht, war gleichgültig.
Immerhin war der Arzt ein vernünftiger und genehmer Mann, aber die Krankenwärter waren Lumpen.
Daß sie vom Sanitätsdienst nicht viel verstanden, konnte man ihnen gar nicht übelnehmen aber sie ließen es auch vollkommen an dem Bestreben fehlen, darin etwas zu lernen.
Barsch und roh gingen sie mit den Kranken um und kehrten sich nicht im mindesten daran, ob sie ihnen Schmerzen verursachten
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und selbst den eigenen Landsleuten gegenüber waren sie nicht viel besser.
Das Lazarett war nämlich nicht allein für die Kriegsgefangenen bestimmt, sondern auch für die einheimische Bevölkerung.
Für dieses war von 10 Uhr vormittags ab Sprechstunde.
Am Nachmittage ließ sich kein Arzt sehen.
Als ich meine Tätigkeit begann, wurde es bald bekannt, daß ich die Krankenpflege besser verstünde als meine russischen Genossen.
Die Folge war, daß die Kranken nur von mir verbunden und behandelt sein wollten und sich immer zu mir drängten.
Meine russischen Kollegen sahen das mit scheelen Augen, sie begannen mich bald zu hassen und danach zu trachten, an mir ihr Mütchen zu kühlen, und sie wiegelten zu diesem Zwecke auch den Pförtner auf.
Aber sie fanden keine Gelegenheit, gegen mich vorzugehen, ja meine Stellung festigte sich mehr und mehr.
Denn durch mein Können in der Krankenpflege hatte ich mir die Gunst der Oberin gewonnen, die deswegen durchsetzte, daß meine Löhnung erhöht wurde.
Eines Tages war nun eine junge Französin nach Schluss der Sprechstunde ins Lazarett gekommen.
Sie hatte ein Geschwür, das reif war und unbedingt geöffnet werden musste.
Da die Kranke schwer darunter litt, der Arzt aber schon fort war, nahm ich selbst die an und für sich harmlose Operation vor.
Am anderen Tage kam die Französin wiederum zum Verbinden.
Der Zufall fügte es, daß sie gerade an einen von den russischen Kollegen geriet; sie weigerte sich jedoch, sich von ihm verbinden zu lassen, und bestand darauf, von mir verbunden zu werden, da sie schon am Tage vorher von mir behandelt worden war.
Der Russe erfuhr so, daß ich, ohne den Arzt zu befragen, eine Operation vorgenommen hatte.
Da glaubte er, daß die Gelegenheit da sei, mir eins auszuwischen,
Er eilte sogleich zum Arzt und machte ihm von dem Vorfall Anzeige.
Aber er hatte kein Glück damit, denn der Arzt fand?
nichts dabei, daß ich die Operation selbständig vorgenommen hatte,
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er sagte nur: »Warum soll er denn das nicht machen:
Laß ihn nur, er versteht es ja.«
Darüber war die Wut nur noch größer, und eines Tages kam es denn doch zum Zusammenstoß.
Ich war infolge irgend eines Anlasses etwas später zum Dienst erschienen. Man hatte gerade eine Operation vor, bei der man meine Hilfe nicht entbehren mochte, so daß ich mit Ungeduld erwartet wurde.
Als ich erschien, wurde der Pförtner sofort gesandt, mich zu rufen.
In seinem Haß konnte er es nicht verwinden, mir zum Zeichen, daß ich mich beeilen sollte, seinen recht derben und herzhaften Stoß zu geben. Das hatte ich nun aber mit mir selbst ausgemacht, daß ich mir Schläge und Misshandlungen nicht gefallen lassen wollte, und sollte es das Leben kosten.
Das mußte nun der Pförtner kennen lernen.
ich gab ihm eins unter das Kinn, und ehe er es sich versah, lag er am Boden.
Mein Vorgehen verursachte unter den anwesenden Russen eine gewaltige Aufregung.
Sie griffen natürlicherweise Partei für ihren Landsmann Schimpfwörter und Verwünschungen wurden laut: »Das ist ein Zauberer, ein Teufel!
Schlagt ihn tot, schlagt ihn tot!« rief man, und am liebsten hätten sie sich auf mich gestürzt.
Aber ich hielt die Sublimatflasche in erhobener Hand, und drohte sie dem Angreifer ins Gesicht zu werfen.
Da fürchteten sie sich.
Aber die Polizei wurde herbeigerufen.
Mit Spatzenflinten bewaffnet kamen sie an, und dann führten sie mich zum Kommandanten.
Doch dieser hatte gerade Ärgernis mit der Bevölkerung gehabt, und als mich die Posten anbrachten, hörte er sie gar nicht an, sondern wies sie kurzerhand wieder hinaus.
Am nächsten Tage wurde ich wieder geholt, und, ohne irgendwie gefragt oder verhört zu werden, zu Arrest berurteilt und eingesperrt.
Wie ich nachher erfuhr, hatte ich dies der Aussage des Pförtners zu verdanken, der behauptet hatte, daß ich dem Arzt ins Gesicht geschlagen hätte.
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Im Gefängnis sollte ich bei Wasser und Brot mein Dasein fristen; das wäre gewiß sehr übel für mich gewesen.
Aber es wurde schließlich halb so schlimm.
Mein Wächter war nämlich ein alter Krauter, der keinen Haß mehr der Welt gegenüber empfand, und seine letzten Tage mit allen, ob Freund oder Feind, in Frieden verleben wollte.
So machte er nicht nur ein Auge, sondern alle beide zu.
Ich bekam infolgedessen ungehindert Brot und Eier geliefert.
Daß der Wächter auch seinen Teil davon abbekam, ist gewiß unnötig zu sagen.
Vom dritten Tage ab wurde es sogar sehr lustig in dem Gefängnis.
Es kam ein Zuwachs von vier Elsässern die wegen Kartenspielens Arrest zugeteilt bekommen hatten.
Sie brachten einen großen Vorrat von Rauchbarem mit, mit dem sie sich bald die Gunst des Aufsehers gewannen, und nun entwickelte sich ein gemütliches Leben.
Wir spielten in der Zelle Karten, pfiffen, sangen und trieben allerhand Scherz, und der Wächter saß vor der Türe und paßte auf, natürlich nicht auf uns, sondern darauf, ob ein Aufseher kam.
In diesem Falle machte er uns sofort Mitteilung.
Im Nu verschwanden dann alle Karten, der Wächter spielte den Pflichteifrigen, ehrsamen Aufseher, und wir die traurigen, bekümmerten, reumütigen Arrestanten.
Im ganzen war ich sechs Tage eingekerkert, dann wurde ich wieder freigelassen.
Ich hatte dies der Oberin zu verdanken, die den Arzt darüber aufgeklärt hatte, aus welsche Weise ich zur Kerkerhaft gekommen war.
Ich mochte jedoch nicht mehr in das Lazarett zurück, ja, ich mochte auch in Druschkowka nicht mehr bleiben und bat daher, mich wieder einem Stammlager zuzuführen.
Man zeigte sich bereit, meiner Bitte zu entsprechen, und überwies mich dem Uebergangslager, wo die untergebracht waren, die nicht arbeiten konnten oder wollten und deswegen, sobald sich Gelegenheit fand, wieder in ein Militärgefangenenlager zurückgebracht werden sollten.
Das Lager, in dem ich mich nun befand, war aus einem alten Theater hergerichtet.
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Es lagen hier Deutsche, Oesterreicher, Tschechen und Türken, fast alles arbeitsunfähige Leute.
Ich fand himmelschreiende Zustände vor.
Die Leute erhielten ein klägliches Essen und verkamen buchstäblich im Schmutz.
Die Lager waren vollkommen verkauft und zum Teil faulig, die Dächer waren undicht, so daß es ungehindert hindurchregnete.
Unnötig, zu sagen, daß ich von alledem wenig erbaut war.
Was die schlechte Verpflegung betraf, so fand ich bald als Ursache dieser Unzulänglichkeit daß die Tschechen die damit betraut waren, ihr Amt nur als Mittel zur Selbstbereicherung ansahen und mit den ihnen unterstellten Frauen die ruchlosesten Unterschlagungen machten.
Sobald ich dies erkannt hatte, erstattete ich Anzeige bei dem Unterdirektor der Fabrik, indem ich ihm zu gleicher Zeit die Suppe zeigte, die die Leute morgens, mittags und abends zu essen bekamen.
Dieser schlug die Hände über den Kopf zusammen und rief:
»Mein Gott, das ist das Essen, das die Leute bekommen?
Das ist ja gar nicht menschenmöglich das kann ja kein Vieh fressen.«
In der Tat wurde von der Fabrik aus reichlich für die Leute geliefert.
Es wurde nun sogleich für gründlichen Wandel gesorgt.
Der Tscheche wurde entfernt, ich selbst zum Barackensaufseher ernannt.
Die Baracken wurden gereinigt und gekalkt.
Ein Arzt wurde zur Untersuchung der Leute und Prüfung der Verhältnisse geschickt.
Bei seinem Rundgange stellte er eine ganze Reihe von Typhuskranken fest, die sofort von den übrigen Leuten gesondert wurden.
Nun wurde ich auch mit der Verpflegung betraut; damit wurde das Essen mit einem Schlage besser.
Die Gefangenen staunten nicht wenig über den gewaltigen Wandel, und alle zeigten sich außerordentlich dankbar.
Ja, die Türken kamen sogar und küßten mir Rock und Hände.
Sie hatten am meisten unter den Verhältnissen gelitten, weil
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sie das Klima nicht gewöhnt waren und deshalb weniger Widerstandsfähigkeit besaßen.
Was mich selbst betraf, so gestaltete sich mein Los recht erträglich.
Natürlich trug auch meine Kunst wieder einen Teil dazu bei, der ich niemals untreu wurde.
Vor dem Lager befand sich eine Wiese, von der wir einen Teil betreten durften.
Hier baute ich mein Seil auf und gab Vorstellungen.
Die Bewohner, die nie dergleichen gesehen hatten, eilten in Scharen herbei, und sie vergasen auch nicht, ihre Erkenntlichkeit zu zeigen, indem sie mir Geld oder Nahrungsmittel wie Butter und Eier gaben.
Eine Vorzügliche Einnahme hatte ich zu Ostern, wo sich die Zahl der gespendeten Eier auf 500 belief.
Solche Spenden waren naturgemäß sehr erwünscht, und da ich sie unmöglich für mich allein verbrauchen konnte, verteilte ich, was ich nicht brauchte, unter die Kameraden, so daß wir schließlich alle etwas Gutes davon hatten.
Meine Vorstellungen gewannen mir auch die Freundschaft und Zuneigung einer jungen Russin.
Kaum hatte ich bemerkt, daß sie besonderen Anteil an meinen Vorführungen nahm, als ich mir den Spaß machte, sie in einem Briefe zu fragen, ob sie nicht Lust hätte, Seiltänzerin zu werden und mit mir nach Deutschland zu fliehen.
Ich bekam zur Antwort, daß dies nicht ginge, da sie, nachdem ihr Vater im Felde gefallen war, die unentbehrliche Stütze ihrer Mutter sei.
Sie wolle mir aber sonst gern gut Freund sein.
So wurde es denn auch.
Viele schöne und angenehme Stunden, von denen noch weiter unten die Rede sein soll, habe ich dieser Dame während des Aufenthaltes in Druschkowka zu verdanken gehabt.
In diesen Tagen kam der Befehl, daß die Elsaß-Lothringer nun doch nach Frankreich geschafft werden sollten und zwar auf dem Seewege.
Die Teilnahme an der Fahrt war freigestellt.
Da ich hörte, daß wir bei diesen Fahrten kein neutrales Land anlaufen würden, lag mir nichts daran, mitzufahren, und so
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lehnte ich die Teilnahme an der Fahrt ab.
Das gleiche taten noch 42 andere Elsässer.
Unserem Wunsche wurde entsprochen, und wir wurden weiter in dem Lager belassen, während die anderen alle fortkamen.
Statt ihrer erhielten wir 400 neue deutsche Gefangene aus einem sibirischen Lager.
Als sie ankamen, teilte ich ihnen mit, was von ihnen erwartet wurde, daß sie nämlich Munition herstellen sollten, die Tausenden der Unsrigen das Leben kosten mußte.
Darüber waren sie außerordentlich entrüstet, und sie beschlossen, samt und sonders die Arbeit zu verweigern.
Als sie also am nächsten Tage zur Arbeit antreten sollten, traten die Feldwebel und Unteroffiziere vor und meldeten, die Mannschaften weigerten sich, die verlangte Arbeit zu tun, da sie zum Schaden ihrer eigenen Kameraden sei.
Man suchte sie im Guten zum Gehorsam zu bringen und erklärte ihnen, es sei nun eben mal so, daß sie als Gefangene zu tun hätten, was ihnen befohlen würde.
Als alles Zureden sich als fruchtlos erwies, griff man zu Drohungen, und schließlich wandte man Gewalt an.
Fürs erste wurde jedes Spiel untersagt, dann wurde die Bewegungsfreiheit eingeschränkt, und schließlich das Essen verschlechtert!
Allein, dies half nichts.
Da führte man sämtliche Feldwebel und Unteroffiziere weg und sperrte sie ein.
Als dies geschehen war, ließ. man die Mannschaften antreten und suchte nun die einzelnen durch Schläge zur Arbeit anzutreiben.
Alles vergebens!
Nun nahm man jeden zehnten Mann heraus, stellte diese Leute an die Mauer und machte allgemein bekannt, daß man sie unweigerlich erschießen würde, falls die Arbeit nicht aufgenommen würde.
Die zum Tode Bestimmten blieben fest, sie wollten ihr Los auf sich nehmen, aber angesichts dieser Lage der Dinge glaubten die übrigen, ein solches Opfer nicht verantworten zu können und beschlossen, sich lieber der Gewalt zu fügen und zu tun, was man verlangte.
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Darauf wurden die Feldwebel und Unteroffiziere wieder zurückgebracht, und die alten Verhältnisse kehrten wieder.
Während dieser Vorgänge hatte ich eine schwierige und ziemlich unangenehme Rolle zu spielen.
Da ich das Vertrauen der Direktion besaß, wurde mir von dieser der Auftrag gegeben, auf meine Landsleute dahin einzureden, daß sie die Arbeit aufnähmen, ja, ich wurde sogar aufgefordert, die Rädelsführer mit Namen anzugeben.
Natürlich ließ ich mich zu solchem Tun nicht verleiten.
Aber ich mußte alle Vorsicht anwenden, dass ich schließlich nicht selbst bei der Fabrikdirektion verdächtig wurde.
Meinen Landsleuten teilte ich immer mit, welche An sinnen an mich gestellt wurden.
Schließlich wurde mir jedoch der Boden zu heiß, da ich Verrat von den Tschechen fürchtete, von denen einige im Lager waren.
Es kam mir daher sehr erwünscht, als wir eines schönen Tages alle das Lager verlassen mußten und auf die übrigen Baracken verteilt wurden, weil das Theatergebäude zu einem Lazarett hergerichtet werden sollte.
Hier hatte ich anfänglich nichts zu tun.
Da bat ein Kamerad, der auf Arbeitskommando bei dem Ökonom der Fabrik war, um Ablösung, weil ihm die Arbeit dort bei seiner körperlichen Gebrechlichkeit und Hinfälligkeit zu schwer wurde.
Sofort meldete ich mich an seiner Statt.
Meiner Bitte wurde entsprochen, und damit kam ich aus dem Lagerleben heraus.
Ich hatte dies nicht zu bereuen; denn jetzt brachen wieder schöne Tage für mich an.
Zwar war die Tätigkeit manchmal sehr anstrengend; ich hatte den ganzen Tag Mehl, Zucker, Käse und andere Materialwaren aus dem Keller oder in den Keller zu schleppen, ich hatte auch die Waren, die gebracht wurden, und ebenso die, die von Kunden geholt wurden, abzuwiegen, und da das Geschäft gut ging, so hatte ich reichlich zu tun.
Aber bei meiner Körperkraft machte mir das nicht viel aus, und andererseits war eine Reihe Vorteile und Annehmlichkeiten mit dieser Stellung verbunden.
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Zudem erwarb ich mir durch Fleiß und Geschicklichkeit das Vertrauen des Ökonomen, und dieser bewies seine Erkenntlichkeit dadurch, daß er mir jedwede Freiheit ließ und mir auch dieses oder jenes von den Waren schenkte.
Auch an Genossen fehlte es mir nicht, da mit diesem Geschäft eine Bäckerei verbunden war, in der sechs Österreicher arbeiteten.
Wir pflegten gute Kameradschaft und Freundschaft und kochten und speisten gemeinsam, und zu essen hatten wir wahrlich genug, da alles, was wir zum Essen brauchten, reichlich geliefert wurde.
Das Schönste aber war, daß ich infolge der Freiheit, die wir hatten, meinen Verkehr mit der oben erwähnten Russin wieder aufnehmen konnte.
Und die Dinge entwickelten sich nun nicht nur so, daß wir zu ihr hinübergingen und sie besuchten, sondern daß sie auch zu uns herüberkam und bei uns nach dem Rechten sah.
Dann kam es nicht selten vor, daß sie uns Tee und Kaffee kochte, und dann setzten wir uns gemeinsam in die Laube und verbrachten bei Kaffee oder Tee und schönem Kuchen dazu unter Scherz und Plaudern manche herrliche Stunde.
Ja, das waren für uns schöne Augenblicke, durch die unser Leben so viel an Reiz und Gemütlichkeit gewann und die alle Beteiligten nie vergessen werden.
Meine Freundin zeigte viel Sinn und Verständnis für meine Kunst, daher unternahm ich es, sie hierin auszubilden.
Sie stellte sich sehr gelehrig an, so daß es gar nicht lange dauerte, bis sie ganz hübsch Seil laufen konnte.
Leider sollten diese schönen Tage ein überaus jähes Ende nehmen.
Eines Morgens — es war ½ 8 Uhr — ich lag noch gemütlich in der Hängematte, die in der Laube angebracht war, — das Geschäft wurde erst um 8 Uhr geöffnet — da kam ein russischer Posten und forderte mich aus, sofort meine Sachen zu packen und zum Lager zurückzukommen.
Ich war nicht wenig erschrocken darüber. Was konnte es geben?
Gewiss nichts Gutes.
Und so war es auch.
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Als ich im Lager ankam, wurde mir eröffnet, daß ich mit den übrigen Elsässern die damals nicht hatten mitfahren wollen, nun doch nach Frankreich geschafft werden sollte, da der Befehl gekommen sei, alle Elsässer ohne Ausnahme nach Frankreich zu schicken.
Ich brauche wohl nicht zu sagen, wie wenig dies nach meinem Sinn war.
In Druschkowka war meine Lage erträglich.
Konnte ich aber wissen, wie es mir in Frankreich ergehen würde?
Und war es nicht als sicher anzunehmen, daß eine Flucht in Frankreich ganz erheblich schwieriger, wenn nicht ganz unmöglich sein würde?
Ich sträubte mich daher mit aller Macht, an der Fahrt teilzunehmen und« setzte alle Hebel in Bewegung, um die Verschiebung zu hintertreiben.
Ja, ich wurde bei den maßgebenden Stellen persönlich vorstellig Allein es war umsonst, ich konnte nichts erreichen.
Immer wieder erklärte man mir achselzuckend, daß man nichts machen könne, es sei strenger Befehl.
So mußte ich mich denn drein fügen, und meinen Kameraden blieb auch nicht anderes übrig.
Auch sie hatten keine Sehnsucht, nach Frankreich zu kommen; denn aus allem, was man so erfuhr, mochten sie nur folgern, daß es die französische Regierung allein daran abgesehen habe, uns zu Franzosen zu machen.
Sie hatten jedoch, wie sie sagten, kein Verlangen danach, das Gerede von der Befreiung und Beglückung Elsaß-Lothringens, das sie zur Genüge kannten, weiter über sich ergehen zu lassen.
Aber es wurde ihnen geantwortet: »Ihr seid Kriegsgefangene und müßt tun, was man euch befiehl.«
Mit der Abfahrt hatte man es sehr eilig; doch fand ich noch Gelegenheit und Zeit, von meinen Bekannten und Freunden unter der russischen Bevölkerung Abschied zu nehmen.
Den Leuten tat es sehr leid, mich scheiden zu sehen.
Gern hätten sie noch weiter Unterhaltung durch meine Künste gehabt.
Am schwersten wurde natürlich der Abschied von der kleinen Russin.
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Diese konnte es gar nicht fassen, daß so schnell eine solche Änderung der Lage eintreten konnte und vergoss darüber die bittersten Tränen.
Aber der Augenblick des Abmarsches kam, und so hatten die schönen Tage von Druschkowka ihr Ende erreicht.
„Dreimal hin, dreimal her, Franzosen machen, ist nicht schwer“, so mochte man wohl in jener Zeit unwillkürlich in Erinnerung an die bekannten Kindersprüchlein dichten angesichts dessen, was man mit uns damals aufstellte.
In Nischni Nowgorod fing es damit an, wo wir solange bleiben sollten, bis der für die Überfahrt nach Frankreichs bestimmte Dampfer von der ersten Fahrt wieder nach Archangelsk zurückkehren würde.
Hier gab man uns nämlich russische Uniformen, um gleich äußerlich anzudeuten, diese Elsaß-Lothringer sind keine Deutschen und werden als solche nicht betrachtet.
Aber ein beträchtlicher Teil weigerte sich aufs entschiedenste, diese Uniformen einzuziehen Sie sagten, sie seien Deutsche und wollten auch nur deutsche Uniformen tragen.
Man suchte sie zu zwingen, doch es war vergebens.
Sie weigerten sich dann überhaupt etwas anzuziehen und setzten schließlich ihren Willen durch.
Ich selbst gehörte nicht zu denen, die sich weigerten, russische Uniform anzuziehen.
Zuerst hatte ich allerdings auch daran gedacht, dann aber hatte ich es mir anders überlegt.
Mir kam der Gedanke, es möchte klüger sein, sich nicht so widerspenstig zu zeigen, und« lieber die Leute einzulullen.
Denn ich hatte den Plan einer Flucht noch keinen Augenblick aufgegeben, und für ein solches Unternehmen war es gewiß besser, alles zu vermeiden, wodurch man unangenehm ausfallen konnte.
So zog ich denn ruhig die russische Kleidung an, indem ich mir sagte,
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das Herz macht den Deutschen und nicht das Kleid, und es zeigte sich später mehr als einmal, daß ich richtig gehandelt hatte.
Die Verhältnisse gestalteten sich für mich zunächst recht günstig.
Es stellte sich heraus, daß der Dolmetscher, der die Listen führte und die Aufsicht hatte, selbst ein Elsaß-Lothringer aus meiner Heimat war und sehr gut meinen Vater kannte.
Er war vor Jahren nach Russland ausgewandert und hatte sich bei Ausbruch des Krieges für Frankreichs erklärt, um der Internierung zu entgehen.
Es ist natürlich, daß mir dieser Umstand mancherlei Vorteile und Annehmlichkeiten brachte.
Der bedeutendste Vorteil war, daß ich durch Vermittlung des Dolmetschers in den Besitz einer Freiheitskarte gelangte, durch die ich die Erlaubnis erhielt, das Gefangenenlager zu verlassen und mich frei umherzubewegen.
Eines Tages wurden wir einem russischen General vorgestellt.
Die Vorstellung fand auf dem Kasernenhofe statt.
Als der General erschien, fiel ihm das Drahtseil auf, das ich aus dem Kasernenhofe ausgebaut hatte.
Er erkundigte sich sogleich nach dem Zweck und als ihm dann gesagt wurde, daß ein Künstler unter den Gefangenen weile, hieß er mich vortreten und verlangte, daß ich ihm etwas vorführte.
Ich kam seiner Ausforderung nach und führte dieses und jenes von meiner Kunst vor.
Er war über die Vorführungen des Lobes voll und schenkte mir 25 Rubel, was mir damals außerordentlich angenehm war.
Aber es bot sich für mich noch eine andere Gelegenheit, Geld zu verdienen.
Es war nämlich zu jener Zeit gerade ein Zirkus in der Stadt, und durch den oben genannten Dolmetscher erwirkte ich die Erlaubnis, dort allabendlich aufzutreten.
Auf diese Weise verdiente ich eine schöne Summe Geld.
Auch eine Flucht wurde wieder geplant.
In seinem Café der Stadt lernte ich eines Tages eine Zirkusdame kennen, die aus Riga war.
Sie war deutscher Herkunft und war aus
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Riga wie viele andere geflohen als es von den Deutschen angegriffen wurde.
Ich wurde mit dieser Dame befreundet.
Eines schönen Tages kamen wir auf den Gedanken, gemeinsam nach Schweden zu fliehen.
Die Vorbereitungen wurden sogleich getroffen Leider wurde infolge Verrats aus dieser Sache nichts.
Es war nämlich dem Dolmetscher erzählt worden, daß ich ein unsicherer Kantonist sei und des öfteren einen Fluchtversuch unternommen hätte.
Infolgedessen wollte sich; dieser sichern; er entzog mir die Freiheitskarte wieder und verbot mir, im Zirkus aufzutreten.
Ich musste nun immer wie die übrigen in der Kaserne verbleiben.
Lange brauchte ich mich jedoch nicht darüber zu ärgern, da wir nicht mehr lange in Nischni Nowgorod blieben.
Denn der Dampfer, der den ersten Transport nach Frankreich gebracht hatte, war glücklich wieder nach Archangelsk zurückgekehrt und stand für seine zweite Fahrt bereit.
So erfolgte alsbald unsere Abfahrt von Nischni Nowgorod nach Archang.
Diese wurde sehr festlich und feierlich gestaltet.
Mit Musik wurden wir durch die Straßen geleitet, und ein jeder von uns trug ein Fähnchen, das ihn als Elsässer kennzeichnete.
Ja, Leute, die wirkliche Französlinge waren, trugen auch wohl Fähnchen mit französischen Farben.
Unser Zug gestaltete sich zu einem wahren Triumphzug.
Die Franzosen, die in der Stadt wohnten, und die vornehmen Russen winkten mit Fahnen und Tüchern aus den Fenstern und schrien: „Vive la France!“
„Es lebe Frankreich!“ „Vive l’Alsace Lorraine!“
„Es lebe Elsaß-Lothringen!“
Diese und ähnliche Zurufe begleiteten uns bis zum Bahnhof.
Hier hatte sich schon eine ungeheure, bunt durcheinandergemischte Menge versammelt, die sich bei unserer Ankunft wie toll vor Begeisterung gebärdete.
Man jubelte und schrie uns unaufhörlich zu, und wir wußten wohl, warum.
Glaubten doch diese Leute nichts anderes, als daß wir, wie ihnen erzählt worden war, nach Frankreich zögen, um in den Reihen der Franzosen gegen unsere »Unterdrücker«, die Deutschen, zu kämpfen.
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Man muß es ihnen wohl lassen, den Franzosen, daß sie sich daraus verstehen, Stimmung zu machen.
Aber was die Russen betraf, so war doch zu sehen daß sich mansch einer ablehnend zu dem Ganzen verhielt und kopfschüttelnd sagte: »Was sind das für Leute, diese Elsass-Lothringer?
Erst kämpfen sie für die Deutschen, und nun wollen sie gegen dieselben ziehen?«
Nach einer Reise von mehreren Tagen erreichten wir Archangelsk.
Das Innere der Stadt bekamen wir leider nicht zu sehen, da wir gleich nach dem Hafen zum Dampfer geführt wurden.
Hier spielte sich bei unserer Abfahrt der gleiche Trubel wie in Nischni Nowgorod ab.
Am Kai war Viel Volk versammelt, und alles rief immer wieder: »Vive la France!«, »Vive l’Alsace Lorraine!«
Dazu spielte die Musik russische und französische Nationalhymnen.
Ich selbst trug dazu bei, das Geschrei und den Jubel noch zu vermehren, als ich mit meiner Fahne, die die Farben meiner Heimatstadt hatte, auf die Spitze des Mastes kletterte und sie von dort hin und hier schwenkte.
Ueber diese Kletterleistung war alles außer sich, man klatschte in die hände und schrie und winkte mit doppelter Macht.
Der Dampfer fuhr ab, indem das Volk, das am Kai stand, uns noch die besten Wünsche für eine glückliche Reise nachrief, und allmählich entschwand die Menge und die Stadt unseren Blicken.
Nun kamen wir auch dazu, uns auf unserem Fahrzeug umzusehen.
Der Dampfer gehörte den Englandern.
Es waren deshalb Viele Engländer an Bord.
Bei ihnen hatte mein Kletter-Kunststücken riesigen Eindruck gemacht, was gewiß nicht verwunderlich ist.
Denn es ist ja bekannt, daß die Engländer ein sportliebendes Volk sind.
So stand ich denn von vornherein bei ihnen in hoher Gunst.
Sie bezeugten mir ihr Wohlwollen indem sie mir Geld gaben und mich schließlich auch zum Whiski einluden.
Dies letztere war mir nun gerade nicht sonderlich angenehm,
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da ich - wie es mein Beruf erfordert — sehr mäßig im Alkoholgenuss bin.
Aber diesmal machte ich eine Ausnahme in dem Gedanken, mit den Wölfen muß man heulen.
Unsere Fahrt war zuerst von schönem Wetter begünstigt.
Wir saßen darum zumeist auf Deck, genossen die frische Seeluft und den schönen Anblick des Meeres.
So mancher von uns hatte ja das Meer noch nicht kennen gelernt und war nun von Verwunderung über dessen Unendlichkeit ergriffen.
Zu Anfang hatten wir allerdings noch auf beiden Seiten Land erblicken können, aber dann war, soweit das Auge reichte, nur Wasser zu sehen.
Am sechsten Tage unserer Fahrt kam ein mächtiger Sturm auf, der die Fahrt recht ungemütlich machte, da wir alle unter der Seekrankheit zu leiden hatten.
Auch ich war nicht verschont geblieben, doch hatte ich die Genugtuung, daß ich mich bald davon erholte.
Die Fahrt war für uns Gefangene recht abwechslungsreich.
Es herrschte an Bord immer großer Trubel und viel Leben.
Namentlich war es für uns sehr unterhaltsam zuzuschauen, wie die russischen Artilleristen von den Franzosen in der Bedienung der Geschütze ausgebildet wurden.
Dann gab es für eine Zeit viel Aufregung, als wir eines Tages große Fische, die imstande waren, weite Sprünge durch die Lust zu machen, erblickten.
Die Franzosen und Engländer machten sich das Vergnügen, auf dieselben zu schießen, und sie erlegten eine große Menge von ihnen.
Eine gewisse Nervosität herrschte, als wir ins Sperrgebiet kamen.
Nun mußten wir alle auf Deck bleiben.
Auch sollten wir Rettungsgürtel und Schwimmwesten anlegen.
Ich verschmähte dies jedoch, da ich mich im Falle eines Unglückes durch. Schwimmen retten zu können glaubte.
Auf meiner Brust aber trug ich unter der Kleidung eine deutsche Flagge, die ich im Falle eines Unterseebootangriffes hin und hier zu schwenken gedachte, damit man zu unserer Rettung herbeieile.
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In der Nähe von England wurden die Vorsichtsmaßregeln noch vermehrt, indem wir von zwei englischen Torpedojägern begleitet wurden.
Wir machten auf unserer Fahrt große Umwege, so daß wir fast bis nach Spanien gelangten. Endlich, nach zwei Wochen, erreichten wir Brest, wo wir ausgeladen wurden.
Der Dampfer fuhr nach einiger Zeit wieder nach Russland zurück, um neue Scharen von Elsässern zu holen.
Noch einige Male ist er so hin- und hergefahren, dann aber ereilte ihn eines Tages sein Schicksal, indem er durchs ein deutsches Unterseeboot versenkt wurde.
Unter Tamtam hatten wir Russland verlassen.
Tamtam wurde uns bereitet, als wir den Boden Frankreichs heiraten.
Zwar wurde mit denen, die sich geweigert hatten, russische Uniformen einzuziehen, nicht viel hiergemacht Sie wurden sofort sang- und Klanglos geschlossen abgeführt, und niemand erfuhr, wohin.
Wir anderen aber wurden mit Musik abgeholt und unter Musik und Vive la France-Rufen nach einem Fort der Festung gebracht.
Hier sollten wir einige Tage bleiben, bis wir uns von der anstrengenden Fahrt erholt hätten und unsere Kleidung gereinigt wäre.
Für diese gab man uns französische Wäsche und Uniformen Das gab uns denn nun nicht wenig Spaß, als wir uns mit einem Male als Franzosen gekleidet sahen, mit roten Hosen und auf dem Kopfe das französische Käppi.
Das mutete uns doch etwas merkwürdig an.
Wir lachten und sagten: »Mit uns Elsässern macht man, was man will.
Vorgestern waren wir noch deutsche Soldaten, gestern schon regelrechte Russen und heute waschechte Franzosen.
Man sieht, aus uns kann man alles machen.«
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Aber, nachdem unsere Kleidung gereinigt war, erhielten wir dieselbe wieder zurück, und dann wurden wir durch Brest zum Bahnhof geführt, damit wir nach dem für uns bestimmten Lager führen.
Natürlich durfte bei unserem Zuge durch die Stadt das übliche Trara nicht fehlen.
Unnötig zu sagen, daß wir wieder mit Musik durchs die Straßen zogen.
Dem Volke war schon vorher bekannt gemacht worden, daß wir durch die Stadt marschieren würden und daß wir gekommen seien, um mit Frankreich gegen die Unterdrücker des Elsaß zu kämpfen.
Infolgedessen ist zu verstehen, daß das Volk ganz außer sich war vor Lust, man schrie und jubelte uns zu und wußte nicht genug seine Freude über diese Zuneigung und Treue der Elsässer zu Frankreich zu bekunden.
Ja, es war in der Tat zu bewundern, wie die französische Regierung für ihre Ziele bei dem Volke so gut Stimmung zu erwecken verstand.
Wir fuhren nach St. Rambert sur Loire, wo wir in einem besonderen Lager untergebracht werden sollten, in dem wir es, wie man uns erzählt hatte, besser als die anderen Gefangenen haben sollten, da man uns vollkommene Freiheit gewähren wollte.
In St. Rambert spielte sich bei unserer Ankunft dieselbe Szene ab, wie in Nischni Nowgorod und in Brest, nur daß es hier noch etwas lebhafter zuging und die Leute noch mehr vor Begeisterung außer sich waren.
Und als ich vollends einige von meinen Kunststücken Vormachte, da erscholl es von überall:
»Ah, voila une figure de Napoléon 1!«, d.h. ei, seht nur an, ein Gesicht, wie das von Napoleon dem Ersten.
Im Lager angekommen, wurden wir in Reih und Glied aufgestellt.
Ein Kapitän ein Französisch-Elsässer, erschien, begrüßte uns und hielt uns etwa folgende Ansprache: „Freunde, ich begrüße Euch, ich begrüße Euch, die Ihr aus Elsaß-Lothringen seid, aus dem Lande, dem auch ich entstamme.
Ich kann Euch die frohe Kunde geben, daß der Tag der Freiheit für Euer gequältes Land und für die ganze Welt nahe ist.
Ihr wißt selbst, wie Ihr
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von den Deutschen unterdrückt und geknechtet worden seid.
Aber tröstet Euch! Morgen schon wird Eurem Lande die Freiheit lachen. Glückliche Tage werdet Ihr dann unter der Herrschaft des ruhmreichen Frankreich verleben.
Darum kommt, Freunde, helft mit an dem Kampfe für die Freiheit, damit morgen Euer Land schon frei ist.“
Er sprach mit Feuer und Begeisterung und wußte seine Worte schön zu wählen, er mochte auch von der Wahrheit seiner Worte überzeugt sein, so daß er wohl Eindruck machen mochte auf Leute, die die Dinge nicht kannten.
Aber warum hielt er uns solche Reden, die wir doch besser Bescheid wußten als er?
Der Aufforderung zum Eintritt in das Heer war kein großer Erfolg beschieden, nur einige wenige traten vor, und was konnte ihr Beweggrund sein?
Waren es wirklich aufrichtige Französlinge oder waren sie durch die Rede betört worden?
Wer konnte es wissen?
Oder hatten sie gar eine besondere Absicht, und gedachten sie etwa auf diese Weise am besten in die Heimat kommen zu können?
Der Gedanke war ja verlockend.
Wenn man Soldat war, dann kam man an die Front, und dann konnte es gar nicht so schwer sein, nach drüben zu gelangen.
Aber nein! Ein solches Unternehmen war zu waghalsig und schließlich mit großer Ehrlosigkeit verbunden.
Nein, das war für mich nichts.
Aus der so viel angekündigten Bewegungsfreiheit für die Gefangenen wurde nichts.
Die Leute erhielten keine Erlaubnis, das Lager zu verlassen, so daß ich ziemlich der einzige wart der dann und wann herauskam, und mir wurde diese Vergünstigung auch nur notgedrungen zuteil, weil ich an den Wohltätigkeitsvorstellungen mitwirkte, die dann und wann veranstaltet
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wurden, z. B. einmal für die verwundeten Elsässer und ein andermal zum Besten der Mobilisierten von St. Rambert.
Zu diesen Vorstellungen benötigte ich natürlich dieses und jenes, so z.B. zum Aufbau der Geräte.
Und das konnte ich nur in der Stadt austreiben. Natürlich war auch ich niemals ohne Begleitung, immer hatte ich einen Posten mit aufgepflanztem Seitengewehr zur Seite.
So sah die Freiheit aus!
Die übrigen Gefangenen wurden bald zur Arbeit herangezogen, ein jeder gemäß seinem bürgerlichen Berufe.
Ein Teil arbeitete in St. Etienne in der Munitionsfabrik; diejenigen, die Landwirte waren oder mit Landarbeit vertraut waren, wurden auf das Land verteilt.
Wie erstaunten diese, als sie die Erfahrung machen mussten, daß ihnen die Leute in manchen Ortschaften durchaus nicht freundliche Miene machten.
»Warum seid Ihr hierher gekommen?« wurde ihnen gesagt.
»Wenn Ihr dageblieben wärt, wo Ihr wart, dann brauchten jetzt unsere Männer nicht ins Feld.
Ihr seid ebenfalls Boches!
Merde les Prussiens! Merde la guerre!«
Nieder mit den Preußen! Nieder mit dem Krieg! und ähnliche Ausrufe flogen ihnen zu.
Es kann wohl nicht Wunder nehmen, daß die Leute von solchem Empfang und von solcher Behandlung nicht erbaut waren.
Es kam daher zu Beschwerden, zu Streitigkeiten, und oft musste der Kapitän erscheinen, um die Wogen der Entrüstung zu glätten.
Aber die Funken des Aergers und der Wut glimmten weiter fort, um bei Gelegenheit immer wieder zu hellen Flammen aufzulodern, und einmal kam es zu einem regelrechten Aufruhr.
Die Leute stürzten sich auf die Wachtleute, verprügelten sie und stürmten sogar das Wachtlokal.
Als der Kapitän erschien, um Ruhe zu stiften, wurde er bei den ersten Worten niedergeschrien.
»Ach, was!« rief man ihm zu, »du bist doch schließlich genau so ein Boche, wie wir.
Warum redest du denn also für die anderen.«
Erst einem anderen Kapitän der gleichfalls Elsässer aus dem französischen Elsaß war, gelang es, sich Gehör zu verschaffen.
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Aber die Leute wollten davon nicht abgehen, daß man ihnen die Freiheiten gab, die ihnen versprochen waren, und schließlich einigte man sich dahin, daß die Gefangenen Bewegungsfreiheit erhalten, aber Verpflichtet sein sollten, wie die französischen Soldaten um 9 Uhr abends zu Hause zu sein.
Unter den geschilderten Verhältnissen wird man es wohl verstehen können, daß ich mich ganz und gar nicht wohl fühlte.
Ich dachte daher ständig darüber nach, wie ich entfliehen könnte.
Es war mir klar, daß die Flucht nicht leicht zu bewerkstelligen war und umfassende Vorbereitungen erforderte.
Zunächst einmal musste ich mich für dies Unternehmen in ausreichender Weise verproviantieren.
Es war aber auch klar, daß ich Landkarten, Zivilsachen und dergleichen mehr dazu haben musste.
Wie schon erwähnt, hatte ich wegen meines Mitwirkens an den Wohlhätigkeitsvorstellungen oft Gelegenheit gehabt, nach der Stadt zu kommen.
Auf diesen Ausgängen war es mir trotz der Bewachung durch den mich begleitenden Posten gelungen, mir nach« und nach alles zu beschaffen, was ich zur Flucht brauchte, so daß ich nur noch auf die günstige Gelegenheit zu warten brauchte, um die Flucht auszuführen.
Diese kam aber nicht sobald, denn ohne einen Kameraden wollte ich nicht fliehen, da ich zu wenig Französisch verstand.
Den Mann aber zu finden, den ich brauchte, war gar nicht so leicht.
Gab es einen, der die Sprache gut beherrschte, so fehlte es ihm wohl an der nötigen Entschlossenheit und Körperkraft, und waren diese vorhanden, so fehlte es wieder am ersten.
Vor allen Dingen aber musste man außerordentlich vorsichtig sein, da man niemals wissen konnte, ob man dem Betreffenden trauen durfte.
Wie oft war mir doch schon durch Verrat alles verdorben worden.
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So strichen die Wochen dahin, und es ging bereits auf Weihnachten zu.
Aber ich mochte nichts überstürzen.
Zu Weihnachten wirkte ich an der großen Weihnachts-vorstellung mit, die man veranstaltete.
Da den Veranstaltern mein Vatersname zu deutsch klang, wollte man ihn an dem Programm nicht nennen.
Ich bestand aber darauf, daß dies doch geschah, und da man mich nicht missen mochte, fügte man sich schließlich darein, wenn man auch über meine Hartnäckigkeit sehr verstimmt war.
Die Vorstellung war außerordentlich gut besucht, so daß wir große Einnahmen hatten.
Im Januar kam in unser Lager ein neuer Schub Elsass-Lothringer, die aus England waren.
Unter ihnen fand ich den Mann, den ich brauchte.
Es war ein Zollbeamter, ein wackerer und offener Mann, kräftig und entschlossen, und, — was von großer Wichtigkeit war — des Französischen und Englischen vollkommen mächtig.
Ihm vertraute ich mich an, entwickelte ihm meinen Plan, und forderte ihn auf, mit mir zu fliehen.
Wie ich erwartet hatte, war er sofort mit allein einverstanden, und ließ sich auch nicht durchs den Hinweis abschrecken, daß es eine Flucht auf Tod und Leben sein würde.
Nachdem wir nun einmal den Entschluss zur Flucht gefasst hatten, wollten wir auch nicht lange zögern, trotzdem wir uns im Winter befanden und starker Frost herrschte.
Die Flucht war auf den 6. Februar festgesetzt.
Des Abends wollten wir uns aus dem Staube machen.
Es war alles bis aufs kleinste besprochen.
Voll fieberhafter Ungeduld wurde der Abend erwartet, da wurde mir wieder einmal ein Strich durch die Rechnung gemacht.
Am Vormittag war der Befehl gekommen, es sollten für eine Waggonfabrik 60 Mann zur Arbeit geschickt werden.
Da man zu diesem Trupp einen Dolmetscher brauchte, wurde mein Kamerad bestimmt, und, statt des Abends mit mir fliehen zu können, musste er mit dem Trupp nach Paris abdampfen.
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Auch mit mir machte man kein Federlesen.
Zu derselben Zeit, wo mein Kamerad nach Paris abdampfte, wurde ich nach einer Munitionsfabrik nach Unio abgeschickt.
Der Kapitän sagte mir: »Sie kommen als Sanitäter dorthin.«
In Wahrheit sollte ich dort arbeiten. Die Gefangenen — es waren ihrer ungefähr 80, — hatten es verhältnismäßig gut, da sie nach der Arbeit umhergehen durften.
Nur mussten sie um 9 Uhr abends zuhause sein.
Ich selbst war mit meinem Lose nicht zufrieden, da man mich wider meinen Willen hierher geschickt hatte und ich eine Arbeit verrichten sollte, zu der ich als Sanitäter nicht verpflichtet war.
Deshalb machte ich zum Protest bei der Arbeit alles verkehrt.
Daraufhin wurde ich nach einigen Tagen mit einer neuen Arbeit bedacht.
Ich sollte von morgens bis abends 10 Uhr den Dampfhammer ziehen.
Das wurde mir denn doch zu bunt, und ich erhob bei dem Unterdirektor Beschwerde; er aber wollte nichts hören, antwortete voller Zorn und Grimm und wollte mich einsperren lassen.
Daran ging ich zum Kapitän; auch dieser wollte von meiner Beschwerde nichts wissen.
Als ich nun sagte, daß ich jede Arbeit verweigere, fing er an, mich zu beschimpfen, indem er erklärte, ich sei ein unsicherer Kantonist, ein Spion, den man einsperren müßte, und am nächsten Tage wurde ich tatsächlich in Gefängnis geworfen.
Noch am selben Abend bekam ich Gesellschaft in einem Offizier Stellvertreter und zwei Musketieren.
Diese waren eingesperrt worden, weil sie sich aus dem Lager fortgemeldet hatten.
Wir sollten nun alle zur Strafe für unser Benehmen in ein Gefangenenlager für die Reichsdeutschen kommen, und zwar wurde bestimmt, daß wir nach dem Strafgefangenenlager Chagnat par Gerzot, Puy de Dome, gebracht werden sollten.
Vorher wurden unsere Sachen genau durchsucht.
Dabei fand man bei mir eine Landkarte, die man mir natürlich ohne weiteres wegnahm.
Doch dieser Verlust berührte mich nicht so sehr, da die beiden anderen Landkarten, die ich außerdem
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noch hatte, trotz der strengen Untersuchungen nicht gefunden wurden.
Auch meinen Kompass entdeckte niemand, da ich den selben als Hosenknopf angenäht hatte und keiner in diesem Hosenknopf einen Kompass vermutete. Desgleichen verblieb mir mein Geld, im ganzen hundert Franken, das ich zwischen Kappe und Unterfutter der Schuhe versteckt hatte.
Bevor wir abmarschierten, vergrößerte sich noch unsere Schar, denn es hatte sich noch eine Reihe anderer aus dem Lager weggemeldet.
Der Grund dafür war, daß unter den Gefangenen Gehässigkeit und Zwietracht herrschte und Anzeigerei und Spionageriecherei an der Tagesordnung waren.
Es ist klar, daß unter solchen Umständen kein ehrlicher Mann in dem Lager verweilen mochte.
Bevor wir ausbrachen, mußten wir unsere russische Gefangenenkleidung ablegen.
Wir bekamen dafür wieder deutsche Sachen.
Wir fuhren nun ein Stück mit der Bahn, worauf wir eine Strecke zu Fuß zu laufen hatten.
Die Wanderung dauerte ungefähr drei Stunden und war wegen des vielen Gepäcks, das wir mit uns hatten, recht unangenehm.
Einige konnten ihre Sachen schließlich nicht mehr mitschleppen, so daß die Begleitposten helfen mußten, worüber diese wenig erbaut waren und weidlich schimpften.
Bei unserer Ankunft im neuen Lager wurden wir nochmals einer eingehenden Durchsuchung unterworfen.
Dabei wurden unsere Sachen alle gestempelt; aber es gelang mir, Hose, Weste und Mantel im rechten Augenblick unbemerkt zur Seite zu schieben, so daß sie ungestempelt blieben und als Kriegs-gefangenenkleidung nicht erkenntlich waren.
Nachdem die Durchsuchung erledigt war, konnten wir unsere Unterkunftsräume beziehen und uns unter die anderen Gefangenen mischen.
Welch eine Überraschung war es nun für beide Teile, als wir hier die Elsässer wiederfanden, die sich seinerzeit geweigert hatten, andere als deutsche Uniform anzunehmen und in Brest
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sogleich bei der Ankunft in geschlossenem Zuge abgeführt worden waren.
Natürlich war das Halloh groß, als sie mich erblickten und sahen, daß ich in gleicher Lage war wie sie.
Wie ein Lauffeuer ging es im Lager herum, Camilio ist auch hier, er gehört nun auch zu den Prisonniers exclus, d. h-. Strafgefangene.
Als solche galten wir nämlich und als solche wurden wir auch bezeichnet und auch die Wertmarken die wir hatten, trugen den Vermerk, daß wir Strafgefangene waren.
Natürlich waren die Verhältnisse schlechter als in den anderen Gefangenenlagern.
So war das Essen recht schlecht.
Es gab alle Tage Reis und abermals Reis.
Aber ich ließ mich durchs keine Unzuträglichkeiten anfechten, denn ich gedachte ja zu fliehen, und dann hatten alle diese Leiden ein Ende.
Die eine Landkarte und der größte Teil der Zivilsachen waren mir bei der Untersuchung genommen worden, auch die Esswaren hatte ich opfern müssen;
da galt es zunächst, das Verlorene von neuem zu beschaffen.
Es war dies nicht ganz leicht, da ich nicht Haus dem Lager herausdurfte; aber mit Hilfe der Kameraden gelang es mir doch, alles zusammenzubekommen, was ich brauchte.
Die nötigen Esswaren bezog ich aus der Kantine.
Alles andere verschaffte ich mir gelegentlich hier und dort.
Auch an einem neuen Kameraden zur Flucht fehlte es mir nicht.
In dem Berliner Kulkowsky hatte ich einen Menschen gefunden, der nicht nur den Mund, sondern auch das Herz auf dem rechten Fleck zu haben schien, so daß man sich wohl getrauen durfte, mit ihm etwas zu unternehmen.
Wieder war alles zur Flucht verabredet, da wurde ich plötzlich krank, indem ich eine böse Geschwulst am Halse bekam.
Auf Grund derselben wurde ich zur Behandlung in das Lazarett nach Billon geschickt.
Hier war ich zehn Tage.
Da geschah es, daß zwei Leute einen Fluchtversuch machten, nachdem sie sich die Landkarte, die in einem Raume des Lazaretts hing, angeeignet hatten.
Sie hatten aber kein Glück bei ihrem Unternehmen; denn sie wurden von einem Österreicher verraten, und so endigte
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das ganze Unternehmen für sie damit, daß sie 30 Tage Arrest erhielten.
Der Arzt war außer sich vor Wut darüber, daß bei ihm so etwas vorgekommen war.
Er dachte darüber nach, wie er sich vor solchen Vorkommnissen in Zukunft schützen könne und fand als das beste Mittel, alle diejenigen, die nicht so krank waren, daß sie im Bett liegen mussten, aus dem Lazarett wieder hinauszuwerfen.
So schrieb er alles, was irgendwie krauchen konnte, gesund.
Infolgedessen wurde auch ich gesund geschrieben.
Ich war darüber nicht böse, freute mich vielmehr, daß ich aus diesem Lazarett, das wir Pferden Anstalt nannten, hinauskam.
Als wir zum Abmarsch fertig waren, musterte uns der Arzt noch einmal, und dabei kam es ihm nicht darauf an, diesen und jenen wegen einer Kleinigkeit zu schlagen.
Als ich ihn daraufhin verächtlich ansah, kam er an mich zu, aber ich ließ mich nicht einschüchtern und wandte den Blick nicht von ihm, da wagte er es nicht, mir etwas zu tun, machte aber den Führer darauf aufmerksam, daß er auf mich ein wachsames Auge haben sollte.
Dieser befand sich in trunkenem Zustande und blieb in dieser Verfassung hinter der Rohheit des Arztes in nichts zurück.
So fand er sein Vergnügen daran, uns mit allerlei Verboten zu quälen.
Er verbot das Rauchen, er verbot das Singen und schließlich verbot er auch das Sprechen. Still und stumm schritten wir so dahin.
Wir hatten an unserem Gepäck mächtig zu tragen.
Zu einer Rast kam es aber nur deshalb, weil der Führer ihrer in seiner Trunkenheit selbst im höchsten Grade bedurfte.
Bei dieser Rast unterhielt ich die Kameraden mit diesem und jenem Kunststück, in der Absicht, sie zu erheitern und zu ermuntern.
Als der Franzose mein Treiben sah, wurde er neugierig, forderte mich aus, noch mehr von meiner Kunst zu zeigen, und als ich dies tat, wurde er ganz gemütlich und ließ uns nun auf dem Weitermarsch jede Freiheit.
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Bei unserer Ankunft im Lager wurde mir eine große Überraschung zuteil.
Man teilte mir mit, daß der Berliner Kulkowsky mit zwei anderen Kameraden bereits ausgekniffen sei und daß sie meine sämtlichen Esswaren, Geräte und Kleidungsstücke mitgenommen hätten.
Der Verlust dieser konnte mir gewiss nicht so ganz einerlei sein, aber ich dachte, das macht nichts, wenn sie nur durchkommen.
Leider gelang ihnen dies nicht.
Schon nach einigen Tagen wurde einer nach dem andern wieder eingeliefert.
Es war dies gewiss recht schmerzlich, aber es hatte schließlich gar nicht anders kommen können; denn von vornherein war die Aussicht, daß sie zu dreien durchkommen würden, sehr gering.
Zu solchem Unternehmen gehört völlige Einmütigkeit, und bei dreien findet sie sieh schon sehr selten.
Wie schwer wurde es mir zum Beispiel, nur ein en gleichgesinnten Kameraden und Genossen zu finden.
Viele Köpfe, viele Sinne. Das zeigte sich: auch hier.
Als die Schwierigkeiten auf der Flucht begannen, wurden sie uneins, der eine wollte diesen Weg, der andere jenen.
Dem einen war dies zu beschwerlich, dem andern das.
So trennten sie sich, und das Ende vom Liede war, daß sie alle drei wieder aufgegriffen wurden.
Die Folge war für sie 30 Tage Arrest.
Aber auch wir anderen hatten unter diesem Fluchtversuch zu büßen.
Man verschlechterte für eine bestimmte Zeit das Essen und nahm uns verschiedene Freiheiten. Für mich selbst war der Schade, daß ich meine Vorbereitungen zur Flucht ganz von neuem beginnen musste.
Das war unter den gegebenen Verhältnissen sehr schwierig, da man aus dem Lager nicht hinaus konnte.
Indessen die Kleidung, die ich haben musste, hatte ich durch Vermittlung eines Kameraden bald wieder zur Hand.
Dieser, ein Schneider, verstand, mir aus Bettzeug schönste Hofe und Jacke herzustellen Schwieriger war es mit dem Kaufen der übrigen Dinge, doch auch hier wurde Rat, als ich auf ein Arbeitskommando kam.
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Eines Tages wurde ein Trupp von 30 Mann nach Germaine-Lembronne zur Landarbeit geschickt.
Da zu diesem Trupp auch ein Krankenpfleger nötig war, meldete ich mich dazu, und ich erreichte es, daß ich diesen Posten bekam.
Der Dolmetscher, der bei dieser Gelegenheit mit uns verhandelte, zog allerdings ein schiefes Gesicht, als er mich bei dem Trupp erblickte und sagte: »Es soll mich nur wundern, wenn du nicht auszureisen versuchst, aber meinetwegen, ich will dich mitlassen.«
In dem genannten Orte hatten wir eine zufriedenstellende Unterkunst in einer Mühle und einem Schuppen.
Zu Anfang machten uns allerdings die vielen Ratten arg zu schaffen, die auch am hellen, lichten Tage munter umhersprangen, so daß wir zunächst einmal gegen diese lästigen Gaste einen heftigen Vernichtungskrieg zu führen hatten.
Im Übrigen war unser Leben so geregelt, daß ich mit einem Posten zurückblieb, um das Essen zu kochen, während die anderen zwei Posten mit meinen Kameraden zur Arbeit gingen.
Über das Essen gab es nichts zu klagen, da wir reichlich Lebensmittel bekamen und es uns so herstellen konnten, wie wir es wollten.
Aber die Leute des Ortes zeigten sich uns gegenüber wenig freundlich.
„Boches“ und andere Schimpfwörter und Verwünschungen bekamen wir häufig zu hören, doch« das Ärgste war, dass wir auch vor den Gassenjungen keine Ruhe hatten.
Diese unterfingen sich sogar, uns mit Steinen zu bewerfen.
Das wurde uns dann allerdings zu bunt.
Wir legten Beschwerde ein und erreichten schließlich auch, daß es besser wurde und solche Beschimpfungen im allgemeinen verblieben.
Den Krieg hatten die Leute natürlich reichlich satt, man konnte sie oft auf den Krieg schimpfen hören: „Merde la guerre“, „Nieder mit den Krieg“, pflegten sie zu sagen, wenn sie sich über Politik unterhielten, und das geschieht ja bei den Franzosen nicht gar so selten, dann schimpfen sie auch über die Regierung, über die Minister Recht schlecht kam Poincaré wieg, am schlechtesten aber der deutsche Kaiser „Guillaume, couper la tête“, Wilhelm muß der Hals abgeschnitten werden,
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war der ständige Schluss aller ihrer Reden.
Daß ihnen dies aus eigener Kraft gelingen möchte, dazu hatten sie wohl kein großes Zutrauen aber sie setzten große Hoffnung auf die Hilfe der Amerikaner, und man konnte da nur bewundern, wie gut die französische Regierung es verstand, das Volk zu bearbeiten und seine Stimmung wachzuhalten.
Amerika werde zwölf Millionen Soldaten rüber senden, erzählten sie, und dann werde es in einem Zuge bis nach Berlin gehen
Wir aber dachten, daß doch auch selbst mit Hilfe der Amerikaner der Marsch nach Berlin nicht so ganz einfach sein würde.
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Für mich traf es sich außer-ordentlich günstig, dass ich als Sanitäter nicht zur Arbeit mitzugehen brauchte, sondern im Lager blieb.
Ich besorgte nun die Einkäufe für die Kameraden, wobei ich natürlich auch reichlich Zeit und Gelegenheit fand, mir alles zur Flucht Notwendige zu beschaffen.
Ein gutes Versteck für diese Dinge hatte ich bald gefunden.
Ich verbarg nämlich alles hinter der Einschalung der Räder von der Transmission, so daß niemand von meinen Absichten etwas ahnen konnte.
Auch sonst bereitete ich alles vor.
Aus der Kleidung wusch ich das P. G., d.h. prisonier de guerre (Kriegsgefangener), mit Petroleum aus, so daß an meiner Kleidung nicht zu erkennen war, daß ich Kriegsgefangener war.
Gegen Anfang August glaubte ich mit allem hinreichend verfehlen zu sein, um mich auf und davon zu machen.
Da trat ein Ereignis ein, das mich zuerst mit banger Sorge erfüllte, schließlich aber zur vollsten Zufriedenheit auslief, indem es mir noch einen wackeren Genossen zur Flucht verschaffte wie ich ihn schon immer gesucht hatte.
Einige Vorkommnisse hatten nämlich der französischen Regierung gezeigt, daß das Verhältnis zwischen Gefangenen und Bevölkerung doch etwas zu vertraut zu werden begann,
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und, um diesem Uebel zu steuern, sahen sie keinen anderen Ausweg, als die Gefangenen, die bisher in Germaine-Lembronne waren, durch andere aus dem Lager zu ersetzen.
Ich selbst hatte nun gefürchtet, daß ich von dieser Änderung auch betroffen werden möchte Glücklicherweise geschah dies nicht.
Eines schönen Tages hatten wir nun also lauter neue Kameraden.
Unter diesen war ein Zimmermann, namens Gramalla, ein sehr kräftiger Mensch geschickt, kühn und verwegen, der schon allerhand durchgemacht hatte.
Er hatte seinerzeit den Vormarsch nach Paris mitgemacht und sich frühzeitig auf demselben das E. K. verdient.
In der Marneschlacht war er infolge eines Schusses in den Oberschenkel in französische Gefangenschaft geraten.
Nach seiner Wiederherstellung von der Verwundung hatte man ihm mit so vielen anderen nach Afrika übergeführt.
Von dort machte er, lechzend nach Freiheit und Vaterland, einen Fluchtversuch nach Spanien.
Leider wurde er abgefasst und nach Frankreich gebracht, und nun war er zu uns gelangt.
Er wusste natürlich viel zu erzählen, und am liebsten sprach er von jenem großen Vormarsch auf Paris am Anfang des Krieges, wie die Franzosen damals zurückgejagt wurden, immer weiter in» ihr Land hinein.
Wie das Vordringen der Deutschen so überraschend gewesen sei, daß die Franzosen oft Hals über Kopf von Trank und Speise weg mussten, und welche überwältigenden Gefühle es dann gewiesen seien, als es hieß, Paris läge vor ihnen.
Ja, das seien große Tage gewesen.
Wie weh sei dann allen ums Herz gewesen, als es hieß, zurück! Tüchtig hätten sie sich gewehrt, die Franzosen hätten das wohl erfahren.
Als er davon hörte, daß ich auskneifen wollte, bat er mich, ihn zur Flucht mitzunehmen.
Mir konnte das natürlich nur recht sein, einen solch tüchtigen und verwegenen Menschen zum Gefährten zu haben, und so schlug ich gern ein.
Er gab mir sein Geld in Summe Von 6 Mark.
Ich tat dies
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zu meiner Habe von 20 Franken hinzu und kaufte für das ganze Geld Essware, dann waren wir mit allem genügend versehen.
Wir besaßen 18 Schachteln Sardinen, 3 Büchsen Leberwurst, 2 Büchsen Fleisch, ebenso viel Milch, 4 Pfund Speck, die gleiche Menge Käse und Schmalz, 25 Eier, 20 Pfund Brot und 8 Pfund Schokolade.
Das konnte wohl für einige Zeit reichen; aber nicht nur für Essen hatte ich gesorgt, auch für alle etwaigen Vorfälle und Vorkommnisse hatten wir uns versichert.
So besaßen wir außer Karten und Kompass Nähzeug, Feilen, Hammer, Zangen, Taschenlampen, Kerzen, eine Benzinlampe, eine Sage, drei Seile von je drei Meter Länge, falls wir Felsabhänge abzusteigen hatten, und ferner medizinische Artikel für Krankheitsfälle.
Zur Aufnahme all dieser Gegenstände diente ein Rucksack und eine bequem zu tragende Kiste.
So ausgerüstet konnten wir wohl eine Flucht wagen.
Nachdem alles vorbereitet und beschafft war, wollten wir auch nicht unnütz zaudern und zögern, da man nicht wissen konnte, was wieder dazwischen kommen konnte.
So setzten wir als Termin den 6. August fest.
Am Tage des 6. August waren die Leute wie gewöhnlich bei der Arbeit.
Im Lager weilten außer mir nur ein Feldwebel und der eine Wachtmann.
Ich wusste es nun unauffällig so einzurichten, daß der Wachtmann draußen zu tun bekam, und ich allein in den Wohnräumen blieb.
Mein Lager hatte ich in dem Unterkunftsraum ganz hinten.
Unter ihm war ein für einen Getreidetrichter bestimmtes Loch das in das Erdgeschoß der Mühle führte.
Ich benutzte nun die Zeit des Alleinseins dazu, dieses Loch so zu vergrößern, daß ich bequem hindurchschlüpfen konnte, dann stieß ich das Fenster des Raumes unter uns auf.
So war der Weg zur Freiheit geöffnet.
Alles dies war in fieberhafter Eile geschehen, und alle Spuren meiner Tätigkeit wurden ebenso schnell beseitigt, so daß von allem, was vorgegangen war, beim Eintritt des Wachtmanns nichts mehr zu merken war.
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Am Abend verlief alles wie sonst.
Beim Appell waren wir alle vollzählig da.
Der Gendarm, dem wir unterstanden, konnte nun also wie gewöhnlich ruhigen Gewissens in die Schenke gehen und kneipen.
Die Kameraden saßen um die Tische, spielten Karten und tauchten und scherzten.
Der Posten, der seinen Platz an der Tür hatte, schmauchte nachdenklich seine Pfeife und beobachtete die „Barbaren“, wie uns die Franzosen zu nennen belieben, bei ihrem Tun.
Dies war der rechte Augenblick für uns.
Gramalla und ich singen an zu gähnen, wir reckten und streckten uns, sprachen von unserer Müdigkeit und begaben uns schließlich nach hinten, gleich als ob wir uns schlafen legen wollten.
Dadurch kamen wir dem Posten aus dem Gesichtsfelde, weil die am Tische sitzenden Kameraden uns vollkommen Verdeckten.
Bald waren wir zum Aufbruch fertig.
Ein kurzer Gruß den Zurückbleibenden, und lautlos, gleich gespensterhaften Wesen, glitten wir durch das Trichterloch in den Raum unter uns.
Von dort huschten wir durch das Fenster in den Weingarten und durch diesen auf die Straße.
Wir hatten unbemerkt das Freie erlangt, nun hielten wir ein wenig inne, um uns umzublicken und einmal voll und frei Atem zu schöpfen.
Bisher hatten wir es nicht gewagt.
Das Herz klopfte uns gewaltig vor Erregung und Freude.
Nun wir soweit gekommen waren, konnte unsere Flucht erst morgen früh entdeckt werden.
Bis dahin aber mussten wir weit sein, darum ging es sogleich hurtig weiter, und wir waren entschlossen, so schnell wie möglich zu marschieren, um eine möglichst weite Strecke in der Nacht zurückzulegen.
Das Wetter war so günstig, wie wir es uns nur wünschen konnten. Von einem klaren Himmel schien silbern der Mond herab, die Luft war nach der Hitze des Tages angenehm kühl und frisch, und gierig sogen wir sie in vollen Zügen ein.
Im Laufschritt legten wir den ersten Teil unseres Marsches zurück.
Pochenden Herzens ging es in wilder Hast querfeldein, über Stock und Stein,
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über Zäune und Hecken und Gräben.
Unsere Kleider zeigten bald genugsam Spuren von unserer wilden Jagd, doch wir achteten nicht darauf.
Was kümmerte uns das! Nur weiter! Immer weiter! Nur ab und zu hielten wir inne.
Sei es, daß ein verdächtiges Geräusch unser Ohr traf, oder daß eine Gestalt vor uns aufzutauchen schien.
Aber glücklicherweise war es jedesmal blinder Schreck.
Ein Tier, das durch die Nacht strich, hatte das Geräusch verursacht, oder ein Baum, der von weitem wie eine Gestalt aussah, hatte uns Getäuscht.
So schritten wir unangefochten vorwärts durch die stille Nacht und die Musik tausender zirpender Insekten, die allein die Stille der Nacht durchbrach.
Die Richtung bei unserem Marsche gaben zwei Hügel an, die im Nordosten vor uns lagen.
Zweimal sperrte die Allier unseren Weg.
Beide Male wurde sie durchschwommen.
Dann hatten wir beim Übergang von Flüssen und Gräben jedesmal Glück, indem wir immer gerade auf eine Brücke oder einen Steg trafen.
So ging es unermüdlich vorwärts, die ganze Nacht hindurch
Nur fünfmal machten wir ganz kurze Rast aber auch mehr, um uns zu orientieren, als um auszuruhen
Am Morgen lag eine Strecke von gut 40 Kilometer zwischen uns und dem Lager, das wir verlassen hatten.
Den Tag über hielten wir uns in dem Dickicht eines Waldes versteckt Nachdem wir uns durch Speise und Trank gestärkt hatten, besserten wir noch rasch unsere Kleidung aus, die wir uns während des Marsches so arg zerrissen hatten, und dann streckten wir uns zum Schlafe hin, während ein leise und sacht herabrieselnder Regen das Schlummerlied sang.
Gegen Abend war es wieder schön geworden, so daß wir abermals vom herrlichsten Mondenschein begünstigt wurden.
Auch diesmal mieden wir· noch die Landstraßen und wählten unseren Weg quer durch die Felder und Wälder, durch Täler und über Berge, als Wegweiser allein unseren vortrefflichen Kompass zur Hand.
So legten wir auch in dieser Nacht eine
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beträchtliche Strecke zurück und erreichten am 8. August früh Chuntal.
Nachdem wir den Tag geruht hatten, ging es abends weiter, abermals bei gutem Wetter, und diesmal getrauten wir uns schon auf der Landstraße entlang zu wandern.
Wir durften es jetzt wohl wagen.
Trotzdem kamen wir nur langsam vorwärts Die Anstrengungen der letzten beiden Tage steckten uns zu sehr in den Gliedern.
Wir waren das Wandern nicht gewöhnt und daher von den ersten beiden Märschen zu sehr mitgenommen.
Schlimmer als ich war mein Kamerad dran, da er sich die Füße wundgelaufen hatte.
Aber wir schleppten uns weiter, so gut es eben ging.
Wir hatten nun schon einen Teil der Leiden einer Flucht zu durchkosten gehabt.
Dies war aber nichts im Vergleich zu dem, was uns in den nächsten Tagen bevorstand.
Es ist schier beschreibbar, was wir von da ab infolge schlechten Wetters durchzumachen hatten.
Als wir am Abend des 9. zu unserem gewöhnlichen Nachtmarsch aufbrachen, war es vollkommen dunkel; der Himmel war bedeckt, tiefschwarze Wolkenberge schoben sich langsam und unheildrohend am Horizonte entlang.
Es sah beängstigend aus, und wir blickten voller Sorge nach dem Himmel.
Um uns in der Dunkelheit unter keinen Umständen zu verlieren, banden wir uns mit einer Schnur aneinander.
Vernahm nun einer von uns einen verdächtigen Laut, so deutete ein Zug an der Schnur dies an, und sofort lagen wir beide glatt am Boden.
Während wir so durch die Nacht dahinwanderten, verdichteten sich die Wolken über uns immer mehr, und plötzlich entlud sich ein heftiges Gewitter mit erbarmungsloser Gewalt über uns.
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Weit und breit war kein Dach und Fach, so daß wir nirgends Schutz finden konnten und den Unbilden des Wetters völlig preisgegeben waren.
In kürzester Zeit waren wir dann auch vollkommen durchnässt, die Kleidung wurde schwer wie Blei, dazu klebte sie uns dicht am Leibe und scheuerte uns beim Gehen.
In den Stiefeln quackte das Wasser bei jedem Schritt.
Aber was half es! Wir mußten weiter.
Keuchend drangen wir Schritt für Schritt durch die Nacht und das grausige Unwetter vor.
Um schließlich das Unglück voll zu machen, gerieten wir von der Landstraße ab.
Wir kamen auf Seitenwege und endlich auf Ackerland, und nun ging es wieder quer darüber hinweg.
Endlich wussten wir nicht, wo wir waren.
Nichts desto weniger drangen wir weiter vorwärts.
Nach mühevoller Wanderung stießen wir auf eine Mauer, die uns den Weg versperrte.
Im Unklaren darüber, was jenseits dieses Hemmnisses sein mochte, warfen wir einen Stock hinüber.
Der Klang des niederfallenden Holzes verriet, daß wir eine Straße vor uns hatten
Hocherfreut überkletterten wir die Mauer.
Wir fanden in der Tat unsere Hoffnung bestätigt.
Nun hatten wir wenigstens wieder Weg und Steg.
Donner und Blitz hatten aufgehört, aber der Regen goss weiter in Strömen auf uns nieder.
Wir nahmen schließlich Weizenbündel vom Felde und stülpten sie uns über den Kopf, um wenigstens etwas Schutz gegen den Regen zu haben.
Aber es half auch nicht viel.
Endlich gelangten wir in ein größeres Dorf.
Hier verlaufen wir uns, so daß wir den Ausgang nicht finden.
Wütendes Hundegebell erhebt sich allenthalben.
Menschenstimmen werden laut.
Wir schweben in banger Sorge.
Kommen Menschen, so sind wir verloren.
Unsere Brust Feucht, das Herz hämmert, die Pulse fliegen.
Wir müssen unter allen Umständen den Ausweg aus dem Dorf gewinnen.
Endlich, nach qualvollen, bangen Minuten, haben wir ihn gefunden; aber wir verirren uns bald wieder und gelangen schließlich in eine Schlucht.
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Da versagen unsere Glieder den Dienst, wir können nicht weiter.
Wir müssen den Tag abwarten.
Als der Tag graut, können wir feststellen, wo wir uns befinden.
Nicht weit von uns ist die Landstraße.
Sogleich steuern wir darauf zu.
Wir stoßen gerade auf einen großen Kilometerstein, auf dem wir lesen können, wo wir uns befinden.
Wir sind bei Noiretable.
Den Tag bringen wir im Getreidefelde zu. Abends machen wir uns dann an die Ersteigung des Gebirges bei Noiretable.
Glücklich haben wir den Kamm erreicht, da bricht ein Gewitter los, das noch schrecklicher ist, als das in der Nacht zuvor erlebte.
Blitz auf Blitz umzüngelt uns. Das Getöse des Donners erreicht, durch den Widerhall der Berge tausendfach vermehrt, eine entsetzliche Stärke.
Der Sturm saust und heult durch die Wipfel der Bäume und peitscht uns unaufhörlich und unbarmherzig den Regen ins Gesicht.
Welche Gefühle überkamen uns da!
Inmitten dieses unheimlichen Tobens der feindlichen Natur wir beiden elenden Menschenkinder mutterseelenallein!
Und noch müssen wir zufrieden sein, keinen Menschen zu treffen; denn es kann ja nur ein Feind sein.
Dort, da unten im Tale und dort oben auf jenem Berge leuchtet freundlich der Feuerschein aus menschlichen Niederlassungen.
Wie geborgen sind die Menschen da!
Aber wir dürfen uns ihnen nicht nahen, denn kein freundliches Willkommen würde uns geboten werden.
So sind wir schlimmer daran als die Tiere, die doch alle ihr Versteck haben.
Mit überwältigender Gewalt kommt uns das Traurige unserer Lage zum Bewusstsein.
Aber wir verzagen nicht und dringen unverdrossen weiter.
Es geht ja der Freiheit entgegen, es geht ja nach dem Lande, wo auch uns Unglücklichen noch sein Auge freundlich lacht.
So kommen wir allen Gewalten zum Trotz langsam und mühsam, aber ständig vorwärts.
Aber mit einem Male wissen wir wieder nicht aus noch ein.
Frierend und zitternd warten wir den Morgen ab.
Da, als dieser graut, machen wir eine Entdeckung bei der es uns eiskalt über den Rücken läuft.
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Dicht vor uns liegt ein furchtbar gähnender Abgrund.
Ein paar Schritte weiter in der vergangenen Nacht und wir wären unrettbar verloren gewesen.
Wir umgehen nun den Abgrund.
Es ist zwar schwierig und gefahrvoll aber mittelst unserer Seile gelangen wir bald sicher auf einen festen Weg, auf dem wir weiterwandern können.
Doch den ganzen Tag über bleiben wir dem garstigen Wetter ausgesetzt, denn nirgends ist ein Unterschlupf zu finden.
Des Abends gelangen wir auf die Landstraße.
Auf dieser geht es die ganze Nacht hindurch entlang bis wir frühmorgens an einen Fluß kommen.
Es ist die la Dore.
Da wir nun einmal bis auf die Haut durchnässt sind, springen wir, ohne uns zu bedenken, hinein, um ans andere Ufer zu schwimmen Beim Aufzucken des Blitzes entdecken wir nicht weit von dem Ufer ein Wärterhäuschen.
Wir finden es leer und mit Lagerstroh versehen.
Unser Jubel darüber ist unbeschreiblich.
Wir ziehen, nein, wir reißen uns unsere nassen Kleider vom Leibe und kriechen splitterfasernackt in das Stroh, um sogleich, von Ermattung überwältigt, in einen todesähnlichen Schlaf zu verfallen. Gegen 6 Uhr abends wachen wir auf.
Wir halten unser Mahl, ziehen unsere noch immer nassen Kleider an und wandern wieder weiter.
Aber es war doch zu schrecklich. Kaum sind wir zwei Stunden unterwegs, als wir wieder von einem Gewitter überrascht werden, das von solcher Heftigkeit war, daß man denken mochte, die Welt gehe unter.
Im Nu sind wir wieder bis auf die Haut durchnässt.
Es war zum Verzweifeln. Doch wir müssen weiter.
Endlich sind wir vollkommen erschöpft. Unsere Knie zittern, und wir taumeln nur noch so dahin. Da suchen wir Unterschlupf in einem Getreideschober.
Aber kaum liegen wir einige Minuten, so fliegen wir vor Frost hin und hier.
»Es hilft nichts,« rufe ich meinem Kameraden zu, »wir müssen weiter, sonst werden wir krank.« Und so setzen wir uns denn wieder in Bewegung, so schwer es uns auch fällt.
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Keuchend schleppen wir uns vorwärts, mit der Geschwindigkeit einer Schnecke.
Endlich, endlich wird das Wetter etwas besser, und schließlich hört es ganz auf zu regnen.
Als der Morgen graut, erreichen wir einen Wald.
Wir nehmen vom Felde Getreidebündel aus der Mitte der aufgestellten Mandeln, wo sie einigermaßen trocken sind, und machen uns im Walde ein Lager zurecht, und da, wer möchte unsere Freude beschreiben, da kommt auf einmal die liebe Sonne hervor.
Immer höher steigt sie am Himmel empor, immer wirksamer, immer wärmer werden ihre Strahlen.
O, wie wonnig, wie herrlich!
Wir jubeln auf. Sehnsüchtig strecken wir die Arme aus, als wollten wir sie greifen und an uns pressen, um sie nimmer wegzulassen Wohlig recken und strecken wir unsere Körper in ihrer wärmenden Glut. O, wie wohl doch das tut nach all diesem Ungemach in dem schrecklichen Wetter.
Nun ist aus einmal alles durchgemachte Leid vergessen.
Die Wärme gibt uns unseren Lebensmut wieder Ach, hätten wir doch nur ein paar Tage solch gutes Wetter gehabt.
Die Freiheit wäre schon unser.
Munter und frohgemut wie am ersten Tage schreiten wir am Abend aus. »Zum ersten Male seit langer Zeit wieder in trockenen Kleidern Welch ein himmlisches Gefühl!
Nun waren wir wieder zu allen Unternehmungen ausgelegt.
So schafften wir denn auch ein gutes Stück Weges, so daß wir gegen Morgen die Loire erreichten.
Wir trafen gerade auf eine Brücke. Die Frage war, ob sie unbewacht war und wir ungestört hinüberkonnten.
Es hieß vorsichtig sein.
So schleiche ich mich denn ohne Gepäck hinzu, um die Verhältnisse zu erkunden
Ja! Die Luft war rein. Kein Posten war zu sehen.
Wir konnten unbehelligt hinüber.
Für den Tag nahmen wir unser Lager am Abhange eines Weinberges unter Dornengebüsch.
Es war das gewiß nicht gemütlich. Ja, es war eine einzige Qual, dort zu liegen.
Aber wir hatten keine andere Wahl. Die Hecken waren so dicht, daß wir nicht sitzen konnten.
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Wir mußten daher den ganzen Tag auf dem Bauche liegen.
Dazu stellte sich gegen Mittag der unvermeidliche Regen ein.
Im Laufe des Nachmittags gab es dann noch einmal eine gewaltige Aufregung!
Ein Hund erschien und schnupperte in unserer Nähe herum.
Wir glaubten schon, daß er uns gewittert hätte.
Aber er nahm uns nicht wahr und verschwand wieder, wie er gekommen war.
Wir atmeten auf. Endlich kam der Abend heran, wo wir wieder weiter wandern konnten.
Wir waren von dem schlechten Liegen halb steif und lendenlahm und mehr müde als am Morgen.
Wie bitter schmeckte der Weitermarsch!
Am 13. hatten wir kein Brot mehr zu essen.
Diese Tatsache verursachte uns nicht geringen Schrecken.
Was sollten wir da nur machen?
Einkaufen, das ging nicht.
Das war zu gefährlich. Wie leicht konnten wir dabei erwischt werden! Da kamen wir auf einen Ausweg.
Wir stahlen Kartoffeln von den Feldern, machten uns im Tannendickicht ein Feuer und kochten regelrecht ab.
Das Gericht gelang uns vorzüglich.
Und so bekamen wir nach sieben Tagen zum ersten Male wieder etwas Warmes in den Magen.
Am 15. früh erreichten wir den Kamm des Loiregebirges.
Es lagerten noch Nebel über dem Tal, aber die Sonne glänzte schon über den Bergen.
Und wie sie höher stieg, teilten sich allmählich die Nebel. Und dann konnten wir mit einmal die ganze Gegend mit der sich durchwindenden Saone im Sonnenglanze vor uns sehen.
Das war ein wunderbar herrlicher Anblick, der das Herz ergriff.
Und wenn wir es nicht besser gewusst hätten, wir hätten geschworen uns in den Alpen zu befinden.
Dicht über uns in den Zweigen der Bäume war ein Vogelnest.
Zwei Vögel trieben dort ihr Spiel und schickten ihr Morgenlied zum Himmel empor.
Da wurde uns so feierlich und weihevoll ums Herz, daß wir, in Gedanken und Schauen versunken, wie verzaubert eine Weile dasaszen.
Dann kamen wir wieder zu uns, und angesichts der unter uns liegenden
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herrlichen Welt schwuren wir uns Freundschaft fürs ganze Leben.
Endlich dachten wir an unser leibliches Wohl.
Wir brauten uns eine Sappe aus Wasser, Kartoffeln und Maggiwürfeln.
Das mundete uns vortrefflich und stärkte und erquickte uns.
Dann beratschlagten wir, über unsere Landkarte gebückt, über den Weitermarsichs; und als wir uns über den Weg geeinigt hatten, streckten wir uns hin und genossen der Ruhe.
Im Laufe des Nachmittags wurde das Wetter wiederum schlecht, und als wir aufbrachen, hatten wir richtig wieder im strömenden Regen zu marschieren.
Es ging diesmal über Wiesen, durch zähen Lehm und Schlamm.
Überaus froh waren wir daher, als wir endlich die Landstraße erreichten.
Nun wanderten wir auf ihr im Eilmarsch nach; Belleville, einer Stadt von 20000 bis 30000 Einwohnern, zu.
Aber erst beim Morgengrauen hatten wir sie erreicht.
Was war nun zu tun? Sollten wir hindurch, oder sollten wir sie umgehen?
Wir entschieden uns für das erstere.
Wir waren schon ziemlich wurstig und dreist geworden, so lenkten wir unerschrocken in die Stadt ein, in dem zuversichtlichen Gefühl, daß es uns schon gelingen würde, uns aus jeder Lage zu retten.
Die Straßen waren noch menschenleer. Die Leute lagen allenthalben noch in süßem Schlummer, in sanfter Ruhe.
Nur zwei Bauern trafen wir, die mit ihren mit Mist beladenen Wagen die Straße entlang rumpelten Entgeistert starrten sie uns an.
Aufsehenerregend war ja wohl unser Aussehen, besonders das meines Gefährten, der von Rock und Mütze die Innenseite nach außen gekehrt trug.
Aber wir kümmerten uns nicht um sie, und ehe sie sich von ihrem Staunen erholen konnten, waren wir schon verschwunden.
Ein gutes Stück Weges hinter der Stadt lagerten wir uns in einem Walde unter Dornengebüsch.
Um zwei Uhr nachmittags wachten wir auf, vom schrecklichsten Hunger gequält.
Aber was sollten wir essen?
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Wir hatten nichts, rein nichts.
Wir hatten weder Kartoffeln, noch Brot, noch sonst etwas.
»Es nützt uns alles nichts,« sagte ich zu meinem Kameraden, »wir müssen unter allen Umständen sehen, daß wir uns Brot kaufen.«
»Aber wenn sie uns dabei fassen?« erwiderte dieser.
„Komme es, wie es wolle, so kann es nicht weitergehen!« sagte ich.
»Ich will es versuchen, ich denke, es soll uns schon glücken.«
Gesagt, getan! Schon war ich auf dem Wege, und wie ich so dahinschritt, konnte man mich unmöglich als Gefangenen erkennen.
Mein Anzug bestand aus einer gewöhnlichen schwarzen Jacke, einer blauen Arbeiterhose, und meine Füße waren mit einem Paar Hausschuhen bekleidet.
Auf dem Kopfe aber saß mir keck die Alpenjägermütze.
Nach meiner Kleidung mochte man mich! für seinen Arbeiter halten.
Ich nahm nun auch eine möglichst unbefangene Miene und Haltung an, und, in der Hand ein Stöckchen schwingend, schlenderte ich vergnügt dem Städtchen zu, ein lustiges Lied vor mich hinpfeisend.
Frank und frei ging ich an den Leuten vorbei, denen ich begegnete, um dreist und gottesfürchtig in den ersten besten Bäckerladen einzutreten.
Als ich hier zwei Kilo Brot verlangte, stutzte der Verkäufer, denn er merkte an meinem Französisch, daß ich Ausländer war.
Aber ich hatte ihn sogleich beruhigt »Sie müssen schon verzeihen« sagte ich zu ihm, »daß ich nicht so gut Französisch kann, ich bin nämlich Serbe.«
»Ah,« erwiderte er erstaunt,
»dann arbeiten Sie wohl da unten am Strome mit.«
»Oui, oui, Monsieur« (Ja, ja, mein Herr).
Nun wurde er recht freundlich und beeilte sich, mir das Verlangte zu geben und war auch mit dem Gewicht nicht so genau.
Und dabei stellte er in seiner Wissbegierde allerhand Fragen.
Wie bange wir in Frankreich blieben?
Wie es uns in Frankreich gefiele?
Und was wollte er nicht noch alles wissen.
Mir war dies Ausfragen einigermaßen unbequem, denn wie leicht konnte man sich dabei verplappern!
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Und so verabschiedete ich mich denn, sobald ich erst mal mein Brot hatte, recht schnell und machte, daß ich davonkam.
Mein Kamerad war natürlich vor Freuden außer sich, als er mich mit meiner Beute ankommen sah. »Bist halt doch ein ganz Gehenkter,« meinte er lachend, „kriegst alles fertig.“
Wir machten uns nun sofort über das Brot her, und bei unserem Wolfshunger verzehrten wir gleich über die Hälfte
Nach dem Mahle studierten wir mit Fleiß die Landkarte.
Aber wir konnten nicht ausfindig machen, ob gerade vor oder links von uns die Somme war, über die wir hinüber mußten.
So entschloss ich mich denn, die Lage der Dinge zu erforschen.
Nach stundenlangem Suchen fand ich endlich den Strom.
Mit Eifer hielt ich Umschau nach einer Brücke Aber ich konnte keine erblicken, obwohl ich kilometerweit am Strome entlang lief.
So kehrte ich denn wieder zu meinem Kameraden zurück der schon sehnsüchtig auf mich wartete.
Ich erzählte ihm, wie sich die Dinge verhielten.
Da sagte er: »Dann müssen wir eben hinüberschwimmen.«
Ich wiegte bedenklich den Kopf hin und her und sprach: »Das dürfte so einfach nicht sein.
Der Strom ist mindestens 300 Meter breit.
Wenn wir das Wagnis Unternehmen wollen, so müssen wir uns klar machen, daß es eines auf Tod und Leben ist.
Doch mein Kamerad blieb fest. Und mir war es schließlich auch recht.
Um 8 Uhr brachen wir auf.
Wir marschierten «an dem kürzesten Wege dem Flusse zu.
Um 9 Uhr hatten wir ihn erreicht.
Wir zogen unsere Kleider aus und packten sie auf den Rucksack und auf die Kiste; denn ein jeder sollte das Seinige auf dem Rücken hinübernehmen.
Da wir nicht alles auspacken konnten, machten wir aus, daß ich nachher noch einmal zurück.
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schwimmen sollte, um den Rest der Sachen zu holen.
Ich ließ nun meine Jacke, Hose und Unterhose, sowie einen Leibriemen zurück, in dem 60 Franken eingenäht waren.
Dazu legte mein Kamerad seine Stiefel und seinen Wassenrock und dann waren wir so weit, das Wagnis zu beginnen.
Ich fragte meinen Kameraden noch einmal, ob er sich auch genügend Kraft zutraue.
Als er es bejahte, sprang ich mit einem »Gott befohlen!« ins Wasser, und er gleich hinterdrein.
Als Richtungspunkt hatten wir ein Licht auf dem gegenüberliegenden Ufer gewählt.
Kaum war ich 50 Meter geschwommen, da merkte ich, daß obiges Licht nicht mehr gerade gegenüber lag, sondern sich rasch nach links entfernte.
„Achtung, Strömung!“ rief ich, so laut ich konnte, meinem Kameraden zu.
Doch ich erhielt keine Antwort.
Verwundert blickte ich um mich.
Aber von meinem Kameraden war nichts zu sehen.
Die Strömung hatte uns also schnell auseinandergebracht.
Nun, wir werden schon wieder zusammenkommen, dachte ich, und schwamm mutig weiter.
Schon war ich ein gutes Stück vorwärts gekommen.
Da merke ich, wie das Schwimmen immer mühevoller wird und wie ich schließlich knapp weiterkomme.
Es war nicht schwer, die Ursache zu erkennen.
Durch das Wasser war die Kiste auf meinem Rücken schwer wie Blei geworden und drückte mich mit Allgewalt herunter.
Mir wurde beklommen zumute. Wie sollte das enden?
Da schlucke ich plötzlich Wasser und gleich darauf noch einmal.
Ein jäher Schrecken durchfährt meine Glieder. War es so weit?
Die Kiste mußte herunter, das war klar, oder ich ertrank elendiglich.
Ich trat Wasser und versuchte unter den verzweifeltesten Anstrengungen, die Kiste herunterzuwerfen. Vergebens!
Es gelingt mir nicht, den Strick über die Schulter zu streifen.
Er ist naß und sitzt wie angeleimt.
Immer mehr Wasser kommt mir in den Mund, und ich sehe schon den Tod vor meinen Augen.
Hilfesuchend blicke ich um mich.
Doch weit und breit ist nichts zu sehen als die schwarzen Fluten des Flusses Eintönig singend, umgurgeln mich diese. Ja meinen Ohren beginnt
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es zu sausen, und es ist, als ob tausend Wassergeister emporgestiegen sind, um mir den Grabgesang zu singen.
Da denke ich an meine liebe, einsame Mutter, an den Schmerz, wenn sie
die Nachricht von meinem Tode erhält.
Ich nehme noch einmal alle meine Kraft zusammen, ich reiße wie ein Verzweifelter,
wie ein Wahnsinniger an dem Strick.
Da endlich, endlich gelingt’s.
Die Kiste ist herunter. „Gerettet!“, juble ich auf aus voller Brust, und ich danke Gott mit ganzem Herzen.
Nun lege ich mich auf den Rücken und lasse mich von der Strömung treiben, indem ich mit der Linken dem Ufer zusteuere, und mit der Rechten die Kiste nach mir ziehe.
So geht es geraume Zeit.
Meine Kräfte sind nahezu verbraucht.
Da erblicke ich Land.
Neuer Mut und neue Stärke kommen über mich.
Unter Aufbietung aller meiner Kräfte schwimme ich auf das Land zu.
In völlig erschöpftem Zustande lange ich endlich an, ich suche mich zu erheben.
Aber halb ohnmächtig sinke ich nieder, und — nun nicht genug mit all der überstandenen Pein, - ich sinke in lauter Brennnessel.
Sie brennen mich entsetzlich.
Aber ich kann nicht weiter, und trotz der Qual, die sie bereiten, bleibe ich zunächst liegen.
Schließlich wird es mir unerträglich
Auf allen Vieren krieche ich, um aus den Brennnesseln hinauszukommen.
Aber welche Grausamkeit des Schicksals! Ich gerate zunächst nur immer weiter ins brennende Grün hinein.
Endlich, endlich bin ich heraus, und dann habe ich noch soviel Kraft, von meiner Kiste die Decke und den Wassenrock herauszunehmen und mich da hineinzurollen, und dann bin ich völlig am Ende, und obwohl beides durch und durchs naß ist,
verfalle ich sofort in einen todesähnlichen Schlaf.
Die brennenden Nesseln hatten dafür gesorgt, daß mir verhältnismäßig warm war und ich nicht allzu sehr fror.
Gegen Morgen wache ich auf.
Verwundert reibe ich mir die Augen.
Wo bin ich? Ich blicke um mich her.
Allmählich kommt mir die Erinnerung zurück.
Ich vergegenwärtige mir meine Lage. Stille herrscht rings herum.
Kein menschlicher
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Laut ist zu hören. Auf dem Strome lagern dichte Nebel.
Kaum 50 Meter weit kann ich sehen.
Ader es genügt, um zu erkennen, daß ich überall vom Wasser umgeben bin.
Also habe ich noch gar nicht das andere Ufer erreicht, wie ich wohl meinte, sondern bin nur auf eine Flußinsel gelangt.
Wie weit mag es noch zum Ufer sein!
Es ist mir nicht möglich, dies zu erkennen; der Nebel ist zu dicht.
Plötzlich schallt froher Gesang an mein Ohr, und sogleich vernehme ich Stimmen von Männern und Lachen und taktmäßigen Ruderschlag.
Ein Boot kommt angefahren.
Mit lauter Stimme rufe ich: „Heda, Leute, kommt und holt einen armen Unglücklichen!“
— Mein Rufen wird gehört.
Das Boot hält auf die Stelle zu, wo ich liege. Bald ist es da.
Die Insassen sind Fischer, auf dem Fischzuge befindlich.
Sie sind ganz verwundert, mich hier zu finden, und sie fragen mich, wie ich hierher komme.
Und da erzähle ich es ihnen, und ich sage ihnen, daß ich am Abend vorher eine Wette gemacht habe, daß ich in voller Kleidung über den Fluß schwimmen wollte, daß ich dann aber beim Austrag der Wette von der Strömung hierher geführt worden sei.
Da fragen sie mich, was ich denn für ein Landsman sei, und als ich ihnen das Märchen von dem Serben auftische, lachen sie verständnisvoll.
Dann könnten sie sich erklären, meinten sie.
Aber es sei ein verrücktes Unternehmen. An dieser Stelle habe noch keiner versucht, den Fluß zu durchschwimmen.
Mittlerweile sind wir am anderen Ufer angelangt.
Unter tausend Dank verabschiede ich mich von ihnen, und beide Teile gehen ihrem Anliegen nach.
Sie nehmen ihre Fahrt wieder auf, und ich begede mich eilends zu dem Orte zurück, von dem wir am vorigen Abend losgeschwommen sind.
Es dauerte eine ganze Zeit, bis ich! ihn erreichte, denn ich war von der Strömung über tausend Meter abgetrieben worden.
Von den Sachen fand ich leider nicht mehr alles vor.
Aus den ersten Blick vermißte ich die Stiefel meines Kameraden, meine Jacke und den Leibriemen samt dem Gelde. Wie sollte ich mir
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dies alles erklären? War etwa mein Kamerad schon dagewesen, und hatte er die Sachen an sich genommen, in dem Glauben, ich sei ertrunken?
Oder war schon ein Fremder vorbeigekommen und hatte sich angeeignet, was er brauchen konnte?
Ich durchsuchte die Taschen dies Waffenrockes von meinem Kameraden.
Dabei fand ich sämtliche Papiere vor und auch sein Eisernes Kreuz.
Unter diesen Umständen war es ausgeschlossen, daß er Hiergewesen sein konnte; denn dann würde er jene wertvollen Sachen mitgenommen haben.
Wo mochte er also stecken, und was konnte mit ihm geschehen sein?
Gewiss, er war ertrunken.
Es blieb kein anderer Schluss übrig.
Wie hätte er mir sonst so schnell aus den Augen entschwinden können?
Es war ihm sicher mit seinem Rucksack ähnlich ergangen wie mir mit der Kiste.
Er hatte sich nicht befreien können und war infolgedessen untergegangen.
Nun war alles aus, war alles vorbei!
Ein Gefühl tiefster Trauer und Niedergeschlagenheit überkam mich.
Wie war das doch alles so bitter!
So viel hatte er durchgemacht
so viele Gefahren glücklich mit mir überstanden.
Nun mußte er hier seinen Tod finden, und ich dachte an den Schmerz seiner
Lieben in der Heimat. O, warum mußte es gerade so kommen!
O, hätten wir doch nur etwas mehr Geduld gehabt!
Ja, die Franzosen hatten Recht.
Es war eine Verrücktheit jenes Unternehmen.
Es war seine Verrücktheit, nachdem alles so gut gelungen war, den Erfolg so vieler Mühe so wagehalsig auf eine Karte zu setzen.
Es wäre doch gewiß auch anders gegangen, z B mit Hilfe eines Floßes.
Es wäre doch gewiß nicht allzu schwer gewesen, ein solches zurecht zu zimmern Freilich, die guten Gedanken kamen einem immer erst nachher.
Nun war nichts zu machen, es war alles vorbei.
Mein guter, treuer Kamerad war dahin.
Ich selbst hatte keine Kleidung und nichts zu essen.
Die Flucht war als gescheitert anzusehen.
Missmutig und traurig begab ich mich in den nahen Wald, ich streckte mich nieder, um meine müden Glieder zu ruhen.
Unbekümmert darum und gleichgültig gegen das, was die Zukunft bringen würde, verfiel ich in einen festen Schlaf.
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Ich mochte eine ganze Zeit schlummernd gelegen haben, als ich ziemlich unsanft geweckt wurde.
Zwei Arbeiter, beides mächtige Kerle, standen vor mir.
Sie mochten Von nebenan sein, von wo man das Summen eines Dresschskastens hörte.
Indem sie auf den Waffenrock meines Kameraden deuteten, sagten sie: „Sie sind Kriegsgefangener, Sie müssen uns folgen!“
Ich gab ihnen zu verstehen, daß ich dazu bereit sei.
Mochte ihnen dies nun zu langsam gehen oder wollten sie sich mit ihrer Macht brüsten.
Jedenfalls riefen sie mir barschien Tones zu:
„Travaillez, (beeilt euch)!, Allez! tout vite! (Macht schnell!)“
und der eine gab mir einen Stoß, um der Aufforderung größeren Nachdruck zu verleihen.
Da ergriff ich diesen beim Arm, ließ ihn meine Muskeln sehen und sagte: „Siehst du, Freundchen?
ich habe Kraft genug, um mit euch beiden fertig zu werden“
Und wenn ihr euch nicht höflich zeigt, so schlage ich euch wie zwei Hunde tot.
Da bekamen sie es mit der Angst zu tun, wurden recht bescheiden, und ich hatte erreicht, was ich wollte.
Sie führten mich nun nach St. Jean zum Bürgermeister.
Dieser schickte sofort nach Belleville zur Gendarmerie, damit sie mich holten.
Die Kunde, daß ein Kriegsgefangener eingefangen sei, verbreitete sich in St. Jean schnell und brachte die ganze Bevölkerung in Aufregung.
In Scharen kamen sie herbei, um mich zu sehen.
Sie nahmen zum Teil eine recht drohende Haltung an.
Vielleicht glaubten sie, ihren Patriotismus zeigen zu müssen.
„Verdammter Boche“ und ähnliche Ausdrücke ertönten an meinem Ohr, und schließlich hatte es sogar den Anschein, als ob einige, die einen ganz besonderen Patriotismus an den Tag legen wollten, aus mich zukommen und sich tätlich an mir vergreifen wollten.
Meine Lage war bedenklich.
Ich musste zu meiner Kunst greifen, um die Gesellschaft im Zaum zu halten.
So nahm ich denn einen Schubkarren, der in der Nähe stand, hob ihn empor und hielt ihn auf meinem Kinn in der Schwebe.
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Da waren sie dass. Sie sahen, daß ich über große Kräfte verfügte, und nun mochten auch die Tapfersten unter ihnen es nicht mehr für rätlich halten, mit mir anzubinden.
Manche waren auch von ehrlicher Bewunderung erfüllt.
Jedenfalls enthielten sich von da ab alle jeder Herausforderung, so daß ich: nun wenigstens meine Ruhe hatte.
Nach einer Weile kamen die Gendarmen.
Es waren frische, derbe Gesellen.
Sie lachten, als ich ihnen von meiner Flucht erzählte.
Sie meinten, sie könnten mir die Flucht nicht verübeln, und waren nicht im geringsten unfreundlich.
Ich wurde von ihnen nach Belleville gebracht und in eine Gefängniszelle gesteckt.
Aber es wurde nicht gar so schlimm daselbst.
Zunächst einmal blieb ich nicht lange allein, denn die Frauen und Kinder der Gendarmen kamen und wollten mich sehen.
Und sie fragten mich nun, warum ich, denn ausgekniffen sei.
Da erzählte ich ihnen, daß ich aus Liebe zum Vaterlande und aus Pflichtgefühl geflohen sei und daß ich zu Hause eine alte Mutter hätte, die um den Verlust des Vaters trauerte und die mich schon drei Jahre nicht gesehen hätte.
Da wurden sie von Mitleid ergriffen und gaben mir recht und schalten auf den Krieg, der soviel Unglück über die Menschen bringe.
Dann fragten sie mich auch, ob ich Hunger habe, und als ich dies bejahte, brachten sie mir allerhand herbei, Wurst und Suppe, Brot und Wein.
Nachdem ich mich daran gelabt und gestärkt hatte, baten sie mich, auch etwas von meiner Kunst zu zeigen.
Das tat ich für die gute Bewirtung natürlich gern, und so verging die Zeit schnell.
Um zwei Uhr nachts wurde ich von zwei Gendarmen, an beiden Händen gefesselt, zum Bahnhof geführt, damit ich die Reise in mein Gefangenenlager, aus dem ich geflohen war, anträte.
Natürlich erweckte ich überall großes Aussehen.
Auf dem einen Bahnhof, wo wir umsteigen mußten, fragte mich einer der Umstehenden scherzend, indem er auf meine Fesseln wies: »Nun ist es wohl vorbei mit dem Ausreißen; denn da gibt es wohl kaum ein Loskommen.«
»D, nichts wäre leichter als
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dies, « erwiderte ich. Ich hatte nämlich schon vorher geprüft, ob sich die Fesseln abstreifen ließen, und« gesunden, daß es möglich sei.
Der Franzose wollte meinen Worten nicht glauben.
Als ich ihm darauf erklärte, daß ich jede Wette eingehen würde, setzte er seine Flasche Wein aus, falls es mir wirklich gelingen sollte.
In Nu hatte ich die Fesseln abgestreift, alles staunte, aber die Gendarmen bekamen es mit der Angst zu tun, ich könnte ihnen noch aus dem Transporte entwischen und baten mich, die Experimente lieber zu unterlassen.
Aber ich beruhigte sie sogleich wieder, indem ich die Fesseln wieder aufstreifte, nachdem wir die gewonnene Flasche Wein geleert hatten.
Im Zuge war ich gleichfalls Gegenstand des lebhaftesten Interesses, ich wurde von diesem und jenem ausgefragt, und es gelang mir immer, Stimmung für mich zu machen, auch bei den verbissenen Patrioten.
Viel mochte allerdings dazu beitragen, daß ich Elsaß-Lothringer bin.
Bei den Unterhaltungen gab es dann manchen Scherz und Spaß, und das Ende war gewöhnlich, daß man auf den Krieg zu schimper begann, die Minister und Regierenden verdammte, und durchaus wollte man immer unserm Kaiser Wilhelm an den Hals.
„Guillaume couper la tête“,
Wilhelm muß der Kopf abgeschnitten werden, mußte ich öfter hören.
Ich konnte nicht einsehen, weshalb es immer gerade ein Deutscher sein mußte, dem der Kopf abgeschnitten werden sollte, und ich pflegte dann zu sagen,
„vergesst nicht eurem Poincare couper la tête“, und wollte dann dieser und jener »etwas erwidern, so sagte ich:
„Ach was, tous les capitalistes couper la tête“,
allen Kapitalisten muß der Kopf abgeschnitten werden,« da waren alle übertrumpft, und man konnte nichts mehr sagen.
Natürlich ist es wohl unnötig zu bemerken, daß dies „tous les capitalistes couper la tête“ nicht so ernst gemeint war.
Im Verlaufe der Fahrt stieg aus« einem Bahnhof seine junge, übermütige Gesellschaft ein, die einen Auslug machen wollte; nun wurde es erst recht lebendig.
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Da einer von ihnen deutsch konnte, konnten wir eine regelrechte Unterhaltung pflegen, bei der dieser den Dolmetscher spielte.
Schließlich kam ihm der Gedanke an seinen photographischen Apparat.
Sofort machte er sich daran, uns zu knipsen, und er versprach mir teuer und heilig, mir später ein Bild zu schicken.
Freilich ist daraus später nichts geworden, aber es kann dies ja schließlich noch werden.
Alles in allem war es mir seit meiner Wiederergreifung leidlich ergangen.
Das wurde aber anders, als ich ins Lager kam.
Am Abend des 18. August, an einem Sonntage, kam ich dort an.
Sofort wurde ich in einen Keller gesperrt, in dem es stockfinster war, so daß man nicht seine 5 Finger sehen konnte, auch, wenn man sie sich dicht dor die Nase hielt.
Zuerst schien es auch so, als ob ich ganz allein wäre, aber dann schlugen schimpfende polnische Laute an mein Ohr.
Ah, dachte ich, du hast Leidensgenossen.
Damit war mir allerdings wenig gedient.
Vor allen Dingen konnte ich meinen Magen nicht darüber hinwegtäuschen, daß er außerordentlich hungrig war.
Ich verlangte darum Essen, aber man schlug mir die Tür vor der Nase zu und wollte mir keins geben.
Da schlug ich, da ich vor Hunger halb wahnsinnig war, fürchterlich Radau und lärmte und tobte wie ein Wahnsinniger, bis man mir schließlich doch etwas zu essen brachte.
Am anderen Tage wurde ich zwecks Verhörs vor den Dolmetscher gebracht, wo man denn alle nur möglichen und unmöglichen Fragen stellte.
Aber ich ließ sie fragen und gab keinerlei Auskunft.
Es ist wohl erklärlich, daß dies Verhalten außerordentlich verstimmte, man wußte sich schließlich nicht anders zu helfen, als mich zum Kapitän zu führen; aber ich verweigerte auch ihm gegenüber jegliche Auskunft.
Ich fand, daß man ein wenig sehr neugierig war und daß ich gar zu viel erzählen sollte.
Der Kapitän war hartnäckig und redete auf mich ein mit Versprechungen und Drohungen; er wollte durchaus wissen,
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wo ich ausgebrochen sei, an welchem Orte ich das Lager Verlassen hatte, woher ich den Kompass und die Landkarte bezogen und wer mir Geld und Esswaren für die Reise gegeben hätte
Aber meine stete Antwort war:
Herr Kapitän, sparen Sie Ihre Worte.
Nun wollte man wissen, warum ich nichts verraten wollte.
Da platzte ich schließlich heraus: Weil ich eben wieder ausreißen will, Herr Kapitän und wenn ich Ihnen jetzt alles sage, dann mache ich es mir nur schwerer.
Da wurde der Kapitän, der sich on so nur mit Mühe und Not an sich halten konnte, kreideweiß vor Wut und ließ mich auf der Stelle wegführen.
Nach einigen Stunden wurde ich wieder geholt, und das Theater begann von neuem.
Man bedeutete mir, daß man mich solange im Keller sitzen lassen würde, bis ich die verlangten Angaben machen würde.
Es gab nun eine erregte Auseinander Setzung zwischen mir und dem Kapitän, in deren Verlauf ich schließlich von Wut ergriffen, alles erzählte, was sie wissen wollten.
»Aber«, fügte ich sogleich hinzu, »sobald ich kann, reiße ich wieder aus« Nachdem sie nun alles erfahren hatten, was sie wissen wollten, wurde mir meine Strafe zudiktiert.
Ich bekam 30 Tage finsteren Kerker bei Wasser und Brot wegen Fluchtversuchs, dazu 15 Tage Haft wegen ungebührlichen Benehmens dem Kapitän gegenüber, und zwar «7 Tage schwere und 8 Tage leichte, im ganzen also 45 Tage.
Das war eine schrecklich lange Zeit, und bei dem Gedanken daran konnte einem wohl bange ums Herz werden, und ohne Zweifel wäre es mir recht schlimm ergangen, aber meine Kameraden waren treu und ließen mich nicht im Stich.
Wie fein wußten sie mir zu helfen!
Am 19. betrat ich meine Zelle, in der es einem recht gruselig zu Mute werden konnte.
Zu essen gab es auch kaum.
Aber schon am nächsten Tage kam Hilfe.
Wie erstaunte ich, als es mit einem Male oben an der Decke rumorte; bald stellte sich auch heraus, was es war.
Kameraden waren an der Arbeit, von oben durch die Decke ein Loch zu bohren.
Als dies geschehen war,
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wurde mir mittels eines Trichters alles durchgegeben was ich zur Nahrung brauchte: Suppe, Tee, Kaffee, Marmelade.
Ich kam also nicht dazu, zu hungern, und so manches Mal mußte ich denken:
Wenn das die Herren Franzosen wüßten, die mich so gerne kleinkriegen wollen!
Mit das Schlimmste bei einer Kerkerhaft ist die schreckliche Langeweile, aber auch diese wurde gemildert, indem mir die Kameraden allerhand Schriften und Bücher zum Lesen durch das Trichterloch hindurchreichten.
Auch durch das Fenster wurde mir hin und wieder etwas durchgesteckt.
Auf diese Weise hatte ich schließlich soviel, daß ich meiner Genossen in der Nachbarzelle gedenken konnte.
Auch da saßen ein paar „schwere Jungen“, alle wegen Fluchtversuchs
Die Möglichkeit eines Verkehrs mit ihnen war bald herausgefunden, denn ich stellte fest, daß ich meinem ersten Nachbar durch das Fenster die Hand reichen konnte.
Sobald ich dies hieraus hatte, gab ich ihm von meiner Nahrung ab, soviel ich entbehren konnte, und dieser wieder reichte davon weiter, was er nicht brauchte, so daß wir alle zu essen hatten und unter Hunger nicht zu leiden brauchten.
Wir waren daher auch im allgemeinen munter und vergnügt, pfiffen und sangen aus Trotz unsere deutschen Lieder, obwohl es verboten war.
Ich verfasste selbst ein Spottgedicht aus die uns feindlichen Mächte und hatte dies auch keinen dichterischen Wert, so bereitete es uns doch allen durch seinen Inhalt viel Spaß und wurde viel von uns gesungen.
Nach einigen Tagen kam der Leutnant, um die Zellen zu besichtigen und nach dem Rechten zu sehen.
Es war einer, der bereits an der Front gewesen war.
Ein kleines, munteres Kerlchen, voll frischen, unverdorbenen Soldatenfinns.
»Ich nehme es euch gar nicht übel«, sagte er zu uns, »wenn ihr ausreißt, denn, wenn ich in Gefangenschaft wäre, würde ich es genau so machen.
»Aber diese da, fuhr er fort, indem er auf die Posten wies,
»die haben dafür zu sorgen, daß ihr nicht durchkommt und· sie soll der Teufel holen, wenn sie nicht auspassen!
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Als er zu mir kam, sagte er: "Ja zum Teufel, Camilio! Ihnen ist ja von der Haft verdammt wenig an zum erkenn, so gut sehen Sie aus.
Das scheint mir doch nicht ganz mit rechten Dingen zuzugehen."
Und er sah und prüfte alles genau, Wände und Decke, aber wegen der Dunkelheit, die in der Zelle herrschte, konnte er das Loch da oben an der Decke nicht sehen; so zog er denn kopfschüttelnd ab, mich in Gedanken vielleicht für einen Hungerkünstler haltend.
Einige Tage später wurde ich wieder zum Kapitän geführt.
Ich war erstaunt und dachte, was haben sie jetzt wieder mit dir vor.
Wollen sie dir neue Strafen zudiktieren?
Aber nein! Es war nichts dieser Art.
Man bat mich an nähere Beschreibung meines Kameraden, und als ich sie gegeben hatte, wurde mir eröffnet, daß man seine Leiche im Strome gefunden habe.
Zum Beweis zeigte man mir ein Bild der Leiche.
Es war in der Tat mein Kamerad.
So war er denn wirklich tot.
Mit tiefster Wehmut gedachte ich noch einmal der Stunden, die ich mit ihm zusammen verlebt hatte
Nach 14 Tagen bat ich; um Beschäftigung mit der Begründung, daß ich es vor langer Weile nicht mehr aushielt.
Man verweigerte sie mir nicht, man beauftragte mich mit dem Ausfegen des Magazins.
Auf meine Bitten erhielt ich auch die Erlaubnis, des Abends eine kurze Zeit auf einer peinlich abgemessenen Strecke hin- und herzugehen um mir die Füße zu vertreten.
So verging Tag für Tag, und ich hatte nun schon 43 Tage abgesessen, da kam ich auf den Gedanken, auch einmal nach meiner Löhnung zu fragen; aber man zeigte sich giftig, man gab mir zwar nicht meine Löhnung aber dafür weitere 4 Tage Arrest.
Ich verlor jedoch nicht die Ruhe und sagte mir, auch die werden vorübergehen, und dann wirst du ja endlich einmal aus dem Kerker herauskommen, und dann heißt es handeln.
Meine Sehnsucht nach der Heimat, nach der Freiheit, war hier im Kerker übermächtig geworden, und es stand fest, daß ich, sowie
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ich herauskäme sogleich wieder einen Fluchtversuch machen würde. Lieber tot, als sich ewig schikanieren und wie ein Raubtier behandeln zu lassen.
Im Kerker hatte ich Zeit genug, darüber nachzudenken, wie ich die neue Flucht bewerkstelligen könnte.
So wie das letzte Mal wollte ich es nicht mehr tun; das stand schon fest.
Denn wenn ich mir den ganzen Verlauf derselben wieder vergegenwärtigte, musste ich mir sagen, daß die Strapazen zu ungeheuer waren, daß das Ganzes viel zu langsam vor sich ging und daß dann trotzdem letzten Endes alles Erreichte durch Zufälligkeiten vernichtet werden könnt.
Aber wie es anders machen?
Dass war die Frage.
Wenn ich so noch oft spät abends in meiner Zelle darüber nachgrübelte, dann kam es wohl vor,
während alles ringsherum still und ruhig war, daß sich von ferne das Rauschen des Zuges vernehmen ließ, der durch die Nacht dahinrollte.
Da kam mir einmal blitzartig der Gedanke:
Die Bahn, ja, die Bahn mußt du bei der Flucht benutzen.
Ich war ja nun schon so oft mit der Bahn gereist und kannte die Verhältnisse bei der Bahn in Frankreichs zur Genüge.
Bei einiger Geistesgegenwart konnte es wohl gelingen, und das Vorteilhafte war, daß die ganze Sache nur ein paar Tage dauern konnte.
Schnell stand mein Plan in großen Umrissen fest.
Am 7. Oktober abends wurde ich aus dem Kerker entlassen.
Am anderen Tage schon veranstaltete ich einen Unterhaltungsabend zum Wohle der im Kerker sitzenden Kameraden.
Die Einnahmen wurden dazu verwandt, für sie Brot und Tabak zu kaufen.
Als der Kapitän Kunde von dieser Vorstellung erhielt, verbot er mir, weiterhin im Lager aufzutreten.
Aber schon am folgenden Sonntage, den 14. Oktober, gab
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ich abermals eine Vorstellung, die mir einen Erlös von vierzehn Franken einbrachte.
So hatte ich wieder Geld.
Kleidung war ebenfalls bald besorgt.
Ein Kamerad, der Schneider im bürgerlichen Berufe war, hatte mir aus einer Bettdecke eine dunkelgrüne Litewka gemacht, die Hose erhielt ich von einem Feldwebel, dem es gelungen war, einen Zivilanzug einzuschmuggeln.
So war ich zur Flucht bereit.
Ein Kamerad gab mir noch schließlich fünf Franken, so daß ich im ganzen 19 Franken besaß; damit konnte man bei einigem Geschick schon etwas unternehmen.
Als Tag hatte ich mir Dienstag, den 16. Oktober, ausgesucht.
Vormittags kam ein Kamerad, ein Ulan, und bot sich an, mit auszureißen.
Zu der Flucht, wie ich sie geplant hatte, konnte ich ihn allerdings nicht gebrauchen, aber ich war damit einverstanden, daß wir gemeinsam aus dem Lager verschwanden und uns dann trennten, damit ein jeder selbst sah, wie er weiter kam.
Als es genügend dunkel geworden war, machten wir uns ans Werk.
Aus dem Lager herauszukommen, war nicht einfach; denn die verschiedenen Fluchtversuche hatten zur Folge gehabt, daß die Posten verstärkt worden waren.
Links und rechts stand einer, kaum 20 Meter entfernt, da hieß es, sich durschwinden·
Der Ulan zögerte und getrautes sich; nicht recht; es war auch ohne Zweifel eine recht bedenkliche Sachse, denn die Posten hatten den Auftrag, bei Fluchtversuch zu schießen.
Da beschloss ich, zunächst allein zu gehen, und mein Kamerad sollte nachkommen.
Ein anderer, es war dies der Elsässer, den ich seinerzeit von Taschkent zum Bahnhof ein Stück Wegs getragen hatte, leistete mir einen willkommenen Liebesdienst, indem er den Stacheldraht so viel wie möglich hochschob.
So kam ich bequem unter dem ersten Zaun durch.
Dann sprang ich blitzschnell, wie es einem geübten Drahtseilkünstler zukommt, über den zweiten Zaun ins Freie, ebenso schnell war ich in einem in der Nähe befindlichen Graben verschwunden.
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Zusammengekauert wartete ich nun darauf, daß mein Kamerad nachkommen sollte, aber Minute auf Minute verrann, ohne daß es geschah.
Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte.
Ohne ihn wollte ich doch nicht gern ausbrechen.
Immer gab ich daher noch einen Augenblick zu.
Da auf einmal wurde es im Lager lebendig. Erregtes Stimmengewirr! Französische Soldaten kommen mit Laternen.
Sie leuchten die Umzäunung ab, sie wettern und fluchen dabei, sie gehen hin und her, verschwinden dann wieder.
Mir wurde etwas komisch zu Mute.
Dann hörte ich, wie Appell abgehalten wurde.
Etwas war gewiss nicht in Ordnung.
Was es war, konnte ich natürlich nicht wissen.
Erst viel später, als ich in Deutschland war, schrieben es mir die Kameraden.
Wie immer, hatte sich auch diesmal ein Verräter gefunden.
Ein Französling — ich konnte mich seiner Person gar nicht entsinnen, — der seine Lage auf Kosten seiner Kameraden zu bessern gedachte, war zur Wache gelaufen und hatte gemeldet, daß Gefangene auszubrechen versuchten.
Daraufhin war man sogleich mit Laternen hinzugeeilt, um den Ausreißer zu fassen.
Aber man war zu spät gekommen.
Ich war gerade hinweg, und der Ulan bekam früh genug Wind, um noch rechtzeitig von der Stelle zu verschwinden, so daß man, als man hinkam, niemanden vorfand.
Die französischen Soldaten fluchten nicht schlecht darüber.
Bei dem Appell, den man sogleich an beraumte, wurde meine Abwesenheit festgestellt.
Sofort wurde meine Flucht nach allen Richtungen telegraphisch gemeldet und mein Bild zum Abdruck an alle Zeitungen gesandt.
Hiernach sahen meine Kameraden und die Franzosen meine Flucht bereits als gescheitert an.
Von allem diesem wusste ich nichts, als ich zusammengekauert im Graben saß; aber ans dem Erscheinen der französischen Soldaten und aus der Abhaltung eines Appells musste ich entnehmen, daß mein Kamerad kaum nachkommen würde und ich allen Grund hätte, mich möglichst schnell aus dem Staube zu machen.
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So lief ich denn los, und zwar, um dass Verssäumte nachzuholen, in verdoppelter Hast, über die Wiesen und Felder in der Richtung auf die Bahnlinie zu.
Ich wusste, es konnte nicht mehr lange dauern, dann müsste der Zug kommen, und mit dem wollte ich noch mit, und nach meinem Plane wäre es eine ärgerliche Verzögerung gewesen, wenn ich ihn nicht mehr erreichte.
Als ich an der Bahnstrecke angelangt war, eilte ich an dieser entlang.
In einer Stunde hatte ich den nächsten Bahnhof erreicht.
Es war Bon-Chamon.
Aber all meine Haft war vergebens gewesen.
Der Zug war schon weg.
Dies bedeutete einen grausamen Strich durchs meine Rechnung;
denn nach Lage der Dinge kam für mich; alles darauf an, möglichst schnell aus der Gegend des Gefangenenlagers zu verschwinden.
Ich ärgerte mich daher über die Maßen sehr, während es in Wirklichkeit vielleicht gut so war, daß ich den Zug verpasst hatte, da die Franzosen meine Flucht bereits überallhin telegraphisch angezeigt hatten.
Ich musste also wohl oder übel zu Fuß wandern Enttäuscht und missmutig nahm ich meinen Weg durch das Dorf, indem ich mit Bitterkeit daran dachte, wie wenig glücklich diese Flucht begann.
Da fiel mein Blick plötzlich aus ein vor einem Wirtshause stehendes Fahrrad, dessen Besitzer in der Schenke kneipen mochte.
"Das schickt der Himmel!" fährt es mir durch den Sinn.
Schon bin ich auf dem Rade drauf, und nun geht es in rasender Fahrt dahin, was meine Beine nur treten können.
»Es saust nur alles so an mir vorbei, Bäume und Sträucher, Häuser, Felder, Wiesen und Wälder. Mich beseelt nur der eine Gedanke, immer vorwärts, immer weiter.
Das Herz pocht gewaltig, die Brust keucht schwer, und der Schweiß dringt mir aus allen Poren; doch ich achte nicht darauf.
Was schiert mich das?
Ich denke nur immer: Laß hämmern das Herz, laß keuschen die Brust, nur immer weiter, nur vorwärts, daß ich Meilen hinweg bin bei Tagesanbruch.
Die Heimat fern, die Mutter mein, ich will, ich will, ich muß sie erreichen.
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So war ich stundenlang ohne Pause gefahren, dann kam der Augenblick, wo meine Kräfte zu Ende gingen.
Aber ich hatte ein gutes Stück Weg zurückgelegt.
Es war gegen Morgen, - bei der Jahreszeit herrschte noch tiefes Dunkel, — als ich abstieg.
Aber ich schwankte, wie ich vorwärts gehen wollte.
Meine Beine waren ganz steif.
Nur mit Mühe konnte ich ausschreiten.
Da schleuderte ich das Rad in den Chausseegraben und werfe mich selbst für eine Zeit daneben hin, ums mich zu erholen.
So liege ich ein bis zwei Stunden, bis ich fähig bin, mich weiterzuschleppen.
Vor mir liegt die Stadt Thier[b], ich wandere zum Hauptbahnhof und löse eine Karte nach Gr. St. Etienne-La Terasse.
Ich habe nicht lange zu warten, da der Zug bald einläuft.
Wegen meiner geringen Geldmittel kaufe ich eine Karte dritter Klasse.
Gleichwohl steige ich in zweiter ein, in der Hoffnung, dort allein zu sein.
Dabei habe ich mich allerdings verrechnet, denn es sitzen schon zwei Reisende im Abteil.
Sie sehen mich einigermaßen verwundert an, als ich ohne Gruß und ohne sie eines Blickes zu würdigen, eintrete.
Sie mögen mich gewiss für einen ungeschliffenen Menschen halten.
Aber sie sagen nichts.
Ich mache es mir in einer Ecke in aller Ruhe bequem und tue bald, als ob ich schlafe.
So fahre ich ungestört eine ganze Zeit.
Station folgt aus Station; da, auf der einen steigt ein neuer Fahrgast ein, zu meinem großen Verdruss; denn ich würde gern noch weiter so fahren.
Seiner Kleidung und seines Auftretens nach muss der Eintretende ein Reisender sein.
Sein Äußeres hat wenig Anheimelndes.
Er hat ein Paar schreckliche lange Beine, Finger so dünn wie Streichhölzer und eine krebsrote Nase.
Was mir aber unangenehmer ist, — er scheint sehr lebhaft und nervös zu sein, — nimmt gerade mir gegenüber seinen Platz ein und hat augenscheinlich die größte Lust, sich zu unterhalten.
Und in der Tat, ohne Rücksicht darauf, das ich doch offenbar ermüdet und schläfrig bin, beginnt er, nachdem er auf seinem Sitze ein paarmal hin- und her gerutscht ist, mit den Worten: »Na,
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wohin geht die Reise?
« Bei meinem bisschen Französisch kann ich mir natürlich nicht einfallen lassen, eine Unterhaltung zu beginnen.
So gebe ich denn überhaupt keine Antwort.
Aber ich habe es mit einem hartnäckigen Gegenüber zu tun.
In der Meinung, ich habe seine Frage überhört, wiederholt er sie etwas lauter, indem er sich zugleich zu mir rüber beugt.
Ein Ausweichen ist nunmehr ausgeschlossen, aber ich bin gewappnet.
Ich setze die erstaunteste Miene der Welt auf, als wollte ich sagen:
"Aber, Mensch, siehst du denn nicht, daß ich taubstumm bin?"
Zugleich suche ich durch Zeichen und Gebärden anzudeuten, daß ich weder hören noch sprechen kann.
Ich besitze im Mienenspiel eine bedeutende Fertigkeit und spiele den Taubstummen so natürlich daß keinem Menschen der geringste Zweifel aufkommen könnte, daß er es wirklich mit einem Taubstuminen zu tun hat.
Mein Gegenüber sieht denn auch ein, daß mit mir nichts zu machen ist, er drückt mir sein Mitleid und Bedauern aus und wendet sich den anderen Reisenden zu.
So war denn diese Gefahr überstanden.
Schon kam eine neue.
Die Schaffnerin erschien, um die Fahrkarten nachzusehen.
Natürlich war sie erstaunt und empört, daß ich nur eine Karte dritter Klasse hatte, aber die Herren waren so freundlich, sich ins Mittel zu legen, machten die Schaffnerin darauf aufmerksam, daß ich taubstumm sei und unterzogen sich mit der Schaffnerin gemeinsam der Mühe, mir durch Zeichen klarzumachen, daß ich noch etwas hinzuzuzahlen hätte, wenn ich zweiter Klasse fahren wollte.
Das kapierte ich denn schließlich auch, zahlte und hatte nun die Genugtuung, daß man mich fortan in Ruhe ließ, so daß ich ohne weitere Störung um 12.30 Uhr in St. Etienne la terasse ankam.
Ich fuhr beim Bahnhof sogleich mit der Straßenbahn in die Stadt hinein, trieb mich in den Straßen umher oder in Schenken wo ich keine Entdeckung zu befürchten hatte.
Um 5 Uhr begab ich mich zum Bahnhof um weiterzufahren.
Meine Absicht war, den Zug zu benutzen, der von Paris über
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St. Etienne, Lyon, Genf nach der Schweiz fuhr und um 1/2 6 Uhr abfahren sollte.
Auf dem Bahnhofe war ein ungeheures Gedränge.
Als ich zum Schalter ging, sah ich im letzten Augenblicke, daß man für Lösung einer Karte einen Ausweis brauchte.
Somit war guter Rat teuer.
Ich dachte schon daran, irgendwo über den Zaun zu springen, da fiel mein Blick auf den Gepäckschalter.
Der Gepäckraum war leer, der Schalter offen, auf der Rampe stand eine Kiste.
Schon habe ich diese erfasst und wandere mit ihr, als wäre ich der Gepäckträger, durch den Gepäckraum auf den Bahnsteig.
Hier stelle ich sie hin, um sie nicht wieder anzurühren, kause mir eine Zeitung und mische mich in den Menschenknäuel.
Der Zug läuft ein, alles drängt sich, einen Platz zu erobern, darunter auch ich.
Nicht lange, so fährt der Zug ab.
Soweit war alles glücklich gegangen; nun hieß es, auf der Hut sein vor dem Schaffner
Nach einiger Zeit erscheint eine Schaffnerin, um die Fahrkarten nachzusehen.
Wie der Blitz bin ich zur Tür hinaus aus das Trittbrett, und nun wage ich mich nicht wieder hinein.
An der Türklinke angeklammert, sause ich die ganze Nacht dahin.
Es war eine ungemütliche Fahrt.
Der Luftzug wehte mich rücksichtslos durch und durch, und meine Finger wurden mir klamm, aber ich hielt fest und kam glücklich bis Lyon.
Hier stieg ich im Gegensatz zu den anderen Reisenden nach links ab, um mich sogleich in dem Wagengewirr zu verlieren.
Ich fand mich bald zum Zaun zurecht, der den Bahnhof von der Straße absperrte.
Mit einem Satze war ich drüber hinweg, um sogleich im Parke des Bahnhofs zu verschwinden, wo ich bis zum Morgen verblieb.
Dann begab sich mich nach der Stadt um etwas zu essen.
Wieder begünstigte mich das Glück.
Die Kellnerin des Gasthauses, in das ich eintrat, war eine Elsässerin.
Sobald ich dies heraus hatte, gab ich mich ihr als Elsässer zu erkennen.
Sie war hocherfreut einen Landsmann zu treffen, und in ihrer Freude gab sie mir umsonst zu essen, so viel, wie ich wollte, was mir bei meinem großen
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Hunger und bei meinen geringen Geldmitteln außerordentlich angenehm war.
Nachdem ich so, über die Maßen unverhofft, wohl gespeist hatte, begab ich mich nach dem Bahnhof, um weiterzufahren
Da ich mir sagen mußte, daß ich ohne Ausweis eine Fahrkarte bis zu einem Orte der Schweiz nicht bekommen würde, verlangte ich eine Karte bis Culots.
Aber trotz dieser Vorsicht kam ich in schwere Bedrängnis.
An meiner Aussprache erkannte der Beamte den Ausländer.
Er fragte darum nach meinem Ausweise.
Da ich keinen vorzeigen konnte, rief er einen Soldaten und ließ mich zur Bahnhofskommandantur führen, damit ich mich dort auswiese.
Das war zu dumm!
Ich sah schon das Ende meiner Flucht vor meinen Augen, und vor meinem Geiste tat sich schaudererregend der Kerker von Chagnat von neuem auf.
Bei diesem Gedanken packte mich wilde Wut und Verzweiflung.
Am liebsten hätte ich mich auf den Posten gestürzt und ihn umgebracht und ebenso jenen grausamen Mann vom Bahnhofsschalter.
Aber ich bezwang meine Erregung und ich dachte, mit Ruhe und Kaltblütigkeit kommst du am weitesten.
Auf der Bahnhofskommandantur fragte man mich, wer ich sei.
Ich gab mich als Schweizer aus und erzählte, daß ich; nach Frankreich gekommen sei, um Arbeit zu suchen.
Als der Beamte hörte, daß ich Schweizer sei, sprach er deutsch zu mir.
Ich ließ mich aber nicht reinlegen und antwortete im Schweizer Dialekt, den ich zur Genüge beherrsche.
Ich bat ihn, wenn er mir nicht glauben wollte, mich mit einem Posten zum Schweizerischen Konsulat zu schicken, da dort meine Papiere seien.
Die sichere und unbefangene Art meines Auftretens flößte ihm Vertrauen ein, so daß er auf meinen Vorschlag einging.
Damit aber hatte ich gewonnenes Spiel, und das Aergste war überstanden.
Jetzt galt es nur noch, mich von dem lästigen Posten zu befreien, und das wollte ich schon unterwegs besorgen.
Darum war mir nicht bange.
Die Gelegenheit fand sich denn auch bald.
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In der Nähe eines Kreuzungspunktes der Straßenbahnen kamen wir an einer Bedürfnisanstalt vorbei.
Indem ich auf diese hindeutete, bat ich meinen Begleiter, mich für einen Augenblick zu entschuldigen Ohne etwas Schlimmes zu argwöhnen, sagte dieser in verständnisvollem Tone: „Oui, oui“ (Ja, ja), und so verschwand ich in der betreffenden Anstalt.
Und während der Franzose einer abfahrenden Elektrischen nachstierte, ging ich zum anderen Ende hinaus, um in die eben nach der entgegengesetzten Richtung vorbeifahrende Elektrische zu springen.
Der arme Franzose tat mir ja beinahe leid, er mochte noch lange gewartet haben, ich aber war wieder einmal gerettet.
Mit der Elektrischen fuhr ich nach dem Bahnhof Lyon St. Claire, dort verlangte ich eine Karte für eine kurze Strecke hin und zurück, und zwar nach Auberilu.
Das konnte nicht ausfallen, und in der Tat ging alles glatt von statten.
Das gute Fräulein, das dort bediente, gab mir ohne weiteres die verlangte Karte.
In Auberilu angekommen, stieg ich jedoch "nicht aus« sondern fuhr weiter.
Aber kaum hatte sich der Zug in Bewegung gesetzt, als ich schon die Schaffnerin ankommen sah.
Sie sehen und mit Blitzesschnelle im Abort verschwinden, war eins; doch da mich die Schaffnerin gesehen hatte, konnte ich hier unmöglich die ganze Fahrt überbleiben.
Ich mußte also wieder hieraus.
Einen Augenblick war ich ratlos, was zu machen sei, dann kam mir ein rettender Gedanke.
Ich öffnete das Fenster und kletterte durch dasselbe hindurch auf das Dach hinauf während sausendster Fahrt und im peitschenden Regen.
Das Kletterkunststückchen gelang, und ich war voller Zufriedenheit, mich wieder fürs erste gerettet zu sehen, so ungemütlich es auch oben war.
Da durchfuhr mich plötzlich mit Schrecken der Gedanke: Was soll aus dir hier oben werden, wenn ein Tunnel kommt?
Dann bist du hier oben verloren, also schnell wieder herunter!
Aber wohin? Ich kroch bis an das Ende des Daches, und mein Plan war, von dort auf die Blattform zu gelungen.
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Langsam, ganz langsam lasse ich mich herunter, bald hänge ich, mit den Händen oben am Dachesrande angeklammert, frei in der Luft.
Da muß ich mit Entsetzen wahrnehmen, daß dieser Wagen als letzter Personenwagen des Zuges keine Plattform hat, so bleibt kein anderer Ausweg, als die Puffer.
Aber auch sie kann ich nicht erreichen, weil die Entfernung zu groß ist.
So schwebe ich in der verzweifeltesten Lage.
Ich befinde mich zwischen Himmel und Erde; nach oben kann ich nicht zurück, nach unten nicht hin, so weiter hängen bleiben ist auch nicht möglich, da das Dach infolge des Regens schlüpfrig ist und meine Kraft nachlässt.
Es bleibt mir nichts anderes übrig, ich muß es versuchen, aus einen Puffer zu gelangen.
Ganz behutsam arbeite ich mich nach links, bis zu der Stelle wo der Puffer sein mochte, dann spreize ich die Beine und mit einem „Hilf Gott“ laß ich mich los.
Glücklich falle ich rittlings auf den Puffer.
Vom Herzen fällt es mir wie Zentnerlast.
So auf dem Puffer reitend, erreiche ich den nächsten Bahnhof. Hier ist es hell, man kann mich sehen.
Ich kann also auf dem Puffer nicht bleiben.
Darum verschwinde ich sogleich unter dem Wagen.
Da war ich unsichtbar und fürs erste geborgen.
Was dann weiter zu machen sei, war mir im Augenblick noch nicht klar.
Kaum bin ich unten angelangt, als zur Abfahrt gepfiffen wird. Ich bin entsetzt!
Was soll ich machen?
Im selben Augenblick ruckt auch schon der Zug an;
Da gibt es denn weiter kein Überlegen.
Ich greife nach den Eisenstangen und klammere mich mit Händen und Füßen fest in der Hoffnung, daß der Zug nur 10 bis 15 Minuten fahren werde und ich diese Fahrt aushalten möchte.
Aber, oh weh, es dauert länger, es dauert bedenklich länger, und mir wird bänglich ums Herz.
Meine Kräfte beginnen schrecklich schnell nachzulassen.
Es wird die höchste Zeit, daß der Zug hält.
Sonst bin ich verloren. Aber dieser saust wie der Blitz dahin.
Sand und Kieselsteine fliegen mir gegen Kopf und Antlitz und
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verursachen mir nicht geringe Schmerzen.
Aber was macht dies aus?
Dies wäre ja alles zu ertragen, wenn nur die Kräfte nicht so völlig schwanden Doch ich will nicht loslassen!
Um keinen Preis!
Fester klammere ich mich an, enger schmiege ich mich an den Wagen, und so geht es denn wieder weiter dahin unter dem Bauche dieses kaltherzigen, grausamen Ungetüms.
Es ist zum Verzweifeln. Immer dasselbe Rasseln und Rollen.
dasselbe Fauchen und Stampfen. Gespannt achte ich darauf, ob nicht eine Verlangsamung eintritt.
Dann pflege ich aufzujubeln.
Jetzt, jetzt muß er anhalten, aber es ist immer wieder eine Enttäuschung.
Ich werde immer schwächer Arme und Beine schmerzen entsetzlich.
Ich fühle es, wenn der Zug nicht bald hält, bin ich verloren.
Wieder reiße ich mich zusammen.
Weiter fährt der Zug mit unverminderter Schnelligkeit, gleichmäßig stampfend und rollend.
Ich denke aus Ende.
Mit Entsetzen male ich es mir aus.
Ich sehe mich im Geiste von den Rädern aufs grässlichste zermalmt.
Nein! Nein! rufe ich mir zu, das darf nicht sein.
Soweit bist du glücklich gelangt, so kurz vor dem Ziele ein Ende! Nein! Nein! und tausendmal nein!
Wut und Verzweiflung packen mich. Sie geben mir neue, ungeahnte Kraft.
Immer wieder ermahne ich mich selbst zur Ausdauer, immer wieder reiße ich mich zusammen.
Oh, welche Wut packt mich über diesen Zug.
Oh, am liebsten hätte ich ihn, der so kalt, so gleichgültig gegen meine Not dahinfuhr, zertrümmert aber er kümmert sich nicht um, meine Angst, er kümmert sich nicht um meine Pein, ihn läßt auch meine Wut vollkommen gleichgültig.
Es geht im gleichen Tempo weiter.
Rasselnd rast er jetzt durch einen Tunnel.
Meine Sinne drohen zu schwinden, nur das Getöse und Gedonner der Räder hält mich noch wach.
Da kommt es mir in den Sinn: Es ist doch alles vergeblich.
Laß ab, und der Jammer hat ein Ende!
Aber dann denke ich wieder an meine Freiheit, an meine liebe, einsame Mutter, an das Vaterland, und dann sage ich, nein, ich will, ich will und ich muß es durchsetzen, ich ergebe mich nicht, und solange
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ich bei Besinnung bleibe, will ich meine Glieder zum Gehorsam zwingen, mögen sie sich aufbäumen, wie sie wollen.
Ich bete zu Gott um neue Kraft, und zum letzten Male strenge ich meine Muskeln aufs äußerste an.
In der Verzweiflung beiße ich mit den Zähnen in die Eisenstange, an der ich hänge; doch es nützt nichts.
Es gehst zu Ende mit mir. Ich bete mein letztes Gebet.
Meine Augen treten aus den Höhlungen heraus.
Kalter Todesschweiß bedeckt mir die Stirn.
„Mutter, Mutter,“ schrei ich, halb sinnlos, laut auf, dann sehe ich nichts mehr und höre nichts mehr.
Nur in den Ohren noch nie ein Summen!
Wie lange das so gewesen, wie lange dieser Zustand gedauert haben mochte, ich weiß es nicht mehr. Genug!
Als ich wieder zur Besinnung komme, finde ich mich mit schmerzenden Gliedern, aber wohlbehalten auf der Erde.
Ich liege unter dem Eisenbahnwagen Eisenbahnbeamte laufen geschäftig vorbei, rufen und schreien und schwenken mit der Laterne.
Sie rufen auch den Namen der Station. Es ist Culotz.
Eine Stunde hatte die Marterfahrt gedauert, eine Stunde hatte ich aushalten müssen, und noch ist die Gefahr nicht vorüber, noch bin ich immer nicht frei, noch darf ich mir keine Ruhe gönnen, jeden Augenblick kann der Zug wieder losfahren.
So beeile ich mich denn, daß ich aus der gefährlichen Lage herauskomme.
Ich krieche unter dem Zuge entlang bis zum Kohlenwagen.
Lautlos wie eine Katze steige ich auf den Wagen und kauere mich langgestreckt zwischen die Kohlen und die Wagenwand nieder.
In dieser Lage erreiche ich glücklich die Grenzstation Bellegarde.
Nun hatte ich wieder etwas Glück, die Lokomotive fuhr etwas zu weit aus der Bahnhofshalle hinaus zwischen zwei andere Züge, so daß der Wagen vollkommen im Dunkeln stand.
Ich blicke mich um und sehe, daß der eine der danebenstehenden Züge der Zug nach Genf ist.
Flugs springe ich vom Wagen herunter.
Im Nu bin ich unter dem Zuge durch, ums dann von der linken Seite in ein Abteil zweiter Klasse einzusteigen.
Es war noch geraume Zeit bis zur Abfahrt des Zuges, so war das Abteil noch leer.
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Ich verkroch mich unter der einen Bank.
Als ich so ungefähr zehn Minuten gelegen hatte, stieg ein Herr in das Abteil.
Das konnte verhängnisvoll für mich werden.
Mir klopfte das Herz.
Aber es gestaltete sich alles besser, als ich es mir wünschen konnte.
Der Herr legte seinen Überzieher auf den Sitz, breitete ihn hübsch aus, so daß derselbe lang herunterhing und mich vollkommen verdeckte.
Nach langem Warten fuhr der Zug ab.
Nur einige Minuten noch, dann war er in der Schweiz.
Ich war gerettet, mir konnte nichts mehr geschehen.
Am Morgen des 19. Oktober landete ich glücklich nach allen überstandenen Strapazen in Genf.
Ich stieg aus und verließ mit den anderen den Bahnhof.
Kaum konnte ich fürs erste mein Glück noch fassen, aber dann schrie und jubelte ich auf vor wilder Freude.
War es wirklich wahr? Oder war es nur ein süßer Traum?
Ich konnte nicht umhin, mich zu befassen und zu befühlen. Ich stieß mich gegen die Mauer, ich warf mich zu Boden, ich mußte es fühlen, daß ich es selbst war. Ja, es war.
wirklich keine Täuschung! Ich war es in der Tat.
Ich war es, ich, Camilio Mayer.
Meine Flucht war mir wirklich gelungen, ich war frei! Und dann konnte ich es nicht verhindern, daß mir vor Rührung die Tränen in die Augen kamen.
Ich wartete bis 7 Uhr im Wartesaal, dann begab ich mich zum Deutschen Konsulat.
Hier war das Hallo groß, als ich mich als aus der Gefangenschaft entwichen meldete.
Die Ordonnanz meinte: „Teufel ja, das geht heute wie im Bienenhaus, Sie sind bereits der sechste, der sich aus der Gefangenschaft zurückmeldet.“
Da mußte ich denn erzählen, wie ich es gemacht hatte.
Dann schüttelte man den Kopf.
So abenteuerlich ist es bei keinem zugegangen, sagte man.
Uebrig zu sagen, daß ich reichlich verpflegt wurde, schöne neue Kleidung bekam und mich wieder wie ein anständiger Mensch herausmustern konnte.
Noch am selben Tage fuhr ich nach Bern, wo mir die Passe zugestellt wurden, damit ich meine Heimreise antreten konnte,
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und am 25. Oktober sah ich in Lörach nach drei langen Jahren zum ersten Male den heiligen Boden meines geliebten Vaterlandes wieder.
Da mußte ich noch einmal zurückdenken an die Zeit, die hinter mir lag, und nun ging es mir wie ein Schauer über den Rücken.
Was hatte man nicht alles durchmachen müssen.
Welche Leiden, welche Entbehrungen, welche Strapazen!
Aber die Ausdauer hatte endlich gesiegt.
Ich dankte Gott von ganzem Herzen, daß er mir die Kraft dazu gegeben hatte, und ich dachte, wer auf Gott vertraut, hat aus keinen Sand gebaut.
Und dann kam mir der Gedanke: »O, möchte doch auch dem deutschen Volke die Ausdauer Rettung aus seiner großen Gefahr und seinen Vielen Leiden bringen.«
Das Schicksal hat es nicht gewollt, daß obiger Wunsch Camilios in Erfüllung ging.
Trotz der gewaltigen Leistungen, trotz der ungeheuren Opfer an Gut und Blut ist es anders mit dem deutschen Volke gekommen.
Zusammengebrochen liegt es ohnmächtig da, und seine Feinde frohlocken und triumphieren und gleich gierigen Wölfen stürzen sie von allen Seiten hinzu.
Aber gerade jetzt heißt es nicht verzweifeln Gerade jetzt tritt erst so eigentlich die Pflicht an uns heran, Ausdauer zu zeigen und zu beweisen. Das deutsche Volk wird und kann nicht untergehen.
Kehren wir zurück zu den Tugenden unserer Vorfahren, dann wird es aufwärts gehen.
Gott wird sich unser erbarmen, und die Stunde der Freiheit wird auch für uns wieder schlagen.
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Band II erscheint demnächst:
Wie es Camilio Mayer während der Revolution im Elsass erging.
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Das deutsche Schulwesen in Polen geht einem schweren Schicksal entgegen!
Die Erhaltung öffentlicher deutscher niederer und höherer Schulen ist von willkürlich hoch gegriffener Schülerzahl und anderen Umständen abhängig gemacht worden.
Die Anerkennung der Notwendigkeit einer deutschen Schule wird künftig großen Schwierigkeiten begegnen.
Darum muss in Teil des Volksschulwesens und der größte Teil des höheren deutschen Schulwesens auf private Grundlage gestellt werden. Dazu hat sich in Bromberg Weltzienplatz 1 III der »Deutsche Schulverein in Polen« gebildet, der bereits mehrere Zweigvereine hat.
Wenn sich auch die Opferwilligkeit der deutschen Bevölkerung allen Bestrebungen der Schulvereine noch so sehr dienstbar macht, steht doch heute schon fest, daß die Mittel zu dem Ausbau des deutschen Privatschulwesens nicht ausschließlich aus dem Deutschtum des Abtretungsgebietes herausgezogen werden können.
Die wirtschaftlichen Berufsorganisationen, die Wohltätigkeitspflege, die politischen Organisationen und nicht zum wenigsten die öffentlichen Lasten stellen so hohe
Anforderungen an den Geldbeutel, daß außer den allgemeinen Schulsteuern die private Sonderbesteuerung durch Schulvereine nicht die alleinige Geldquelle für das deutsche Privatschulwesen sein kann.
Es muß uns das alte Vaterland und das Deutschtum in aller Welt helfen.
Darum geht an alle unsere Volksgenossen in Deutschland, Amerika oder wo sie sonst wohnen mögen die herzliche Bitte:
Gebt, gebt bald für das Schulwesen
Eurer deutschen Brüder in Polen!
Wendet Euch an den Deutschen Schulverein in Polen
Sitz Bromberg, Weltzienplatz 1 III
Bankkonto: Diskontogesellschaft Danzig
Notes (ck)
[a] Musique 1913
German Operetta 1913 - Puppchen, du bist mein Augenstern (sur YT)
[b] Thiers